Bild der 02. Woche - 10. Januar bis 16. Januar 2022
Wenn es um Neugier und die Freuden einzigartiger künstlerischer Entdeckungen geht, waren die Gründer des Museums für Ostasiatische Kunst, Adolf und Frieda Fischer, wahrhaft begnadet! Ein typisches Beispiel dafür: die Geschichte, wie sie im Jahr 1902 in der japanischen Stadt Kobe zufällig auf zwei eindrucksvolle Löwenköpfe aus vergoldeter Bronze stießen.
Ein sensationeller Fund! Frieda Fischer beschreibt dies in ihrem 1942 erschienenen Chinesischen Tagebuch:
»30. September 1902 – An Bord der Fu-ping, auf dem Weg von Japan nach Shanghai ... Das Erlebnis des letzten Tages in Japan geht uns im Kopf herum: Als wir die Hauptstraße Kobes durchschlenderten, führte uns ein guter Geist in einen der großen, in der Hauptsache auf Fremde eingestellten Antiquitätenläden. ›Wahrhaftig, da stehen romanische Löwenköpfe‹, raunte Adolf Fischer mir überrascht zu, ›zwei lebensgroße romanische Löwenköpfe!‹ Unsere Augen, die noch ganz auf japanische Kunst eingestellt sind, erschraken fast über die eindeutige Pracht dieser vergoldeten, grün und blau patinierten Bronzeköpfe. Der Besitzer rief einen Chinesen herbei, der, von Peking kommend, erst heute in Kobe eingetroffen war und die Löwenköpfe gebracht hatte. ›Unica‹, sagte Adolf Fischer begeistert, ›Unica! Wo gibt es solche Prachtexemplare in Europa?‹ Wir zögerten nicht einen Augenblick, sie auf jeden Fall zu erwerben, verpackten sie und sandten unseren Schatz auf das in kurzer Zeit abfahrende Schiff, eine gehörige Last; denn jeder Kopf wiegt 52 ½ Kilo.«
Das Sammlerehepaar geht davon aus, dass die Löwenköpfe im Mittelalter in Europa entstanden sind. Tatsächlich ähneln sie romanischen Skulpturen aus Südfrankreich. Um dies zu prüfen, beschließt man eine neue Reiseroute: »Wir werden das Ziel unserer schließlichen Heimreise ändern; wir werden nicht den Dampfer nach Genua, sondern einen nach Marseille nehmen, um unsere Löwenköpfe mit denen in St. Trophime in Arles zu vergleichen, den Steinlöwen. Denn so große Bronzen des 12. und 13. Jahrhunderts sind fast ausnahmslos Kriegen und Revolutionen zum Opfer gefallen, indem sie eingeschmolzen wurden.« Rätselhaft bleibt jedoch, wie die Skulpturen aus Europa nach Asien gelangt sein könnten: »Wer brachte diese Löwenköpfe nach China? Beziehungen zwischen Europa und China hat es seit den ältesten Zeiten gegeben. Das Vorhandensein einer Karawanenstraße durch Asien, die in der Hauptsache dem Seidenhandel diente, ist uns bekannt, auch dass Geschenke von Rom, dem Vatikan, zum chinesischen Kaiser gesandt wurden, insbesondere durch die Jesuitenmission im 16. Jahrhundert. Die mongolischen Horden des großen Dshingis Khan brachten von ihren Raubzügen nach Europa Beute heim. Der venezianische Handel streckte schon im 13. Jahrhundert seine Fühler bis in den fernen Osten aus. Tausende Möglichkeiten erwägt unser Kopf. Eines Tages sollen unsere Löwenköpfe, deren Besitz uns erregt, uns ihre Herkunft offenbaren. Könnten sie doch reden!«
Im Museumsführer, von Adolf Fischer 1913 zur feierlichen Eröffnung des Museums für Ostasiatische Kunst herausgegeben, sind die Löwenköpfe noch in das 12. Jahrhundert datiert und werden der Region Süditalien oder Südfrankreich zugewiesen. 1985 sorgen die beiden Bronzen in der Asia Society New York für Aufsehen. Sie stammen nicht aus Europa, sondern aus Indien! Genauer: aus der Zeit des Großmoguls Akbar (regierte 1556 – 1605). Miniaturmalereien aus dieser Epoche zeigen solche Löwenköpfe als Architekturelemente. Die beiden einzigartigen Löwenköpfe befanden sich wohl an den Ecken eines Palastgebäudes des Großmoguls und dienten dort als Säulenkapitelle. Von Oktober 2012 bis Februar 2013 werden sie in Rom in der glanzvollen Akbar-Ausstellung im Palazzo Sciarra präsentiert.
A. Schlombs