Bild der 46. Woche - 16. November bis 22. November 2020
Bei Reisenden aus Fernost wird es zunehmend beobachtet: das »Paris-Syndrom«. Japanische Touristinnen und Touristen verzweifeln und leiden, wenn die Seine-Metropole, verehrt als Stadt der Liebe, Kunst und Eleganz, so gar nicht ihren lang gehegten Erwartungen entspricht. Ruppig statt romantisch, Müll statt Monet.
Käthe Kollwitz (1867 – 1945) konnte das nicht schrecken. Als die Künstlerin im Jahre 1904 zwei Monate lang in Paris weilt, ist sie »bezaubert«. Paris ist zu jener Zeit der Inbegriff der modernen Stadt, mit breiten Boulevards, sternförmigen Plätzen und großbürgerlichen Gebäuden. Tagsüber besucht Kollwitz Cafés, Museen, Ateliers und vor allem die Plastik-Klasse der Académie Julien. Nachts findet man sie in den Tanzlokalen auf dem Montmartre und dem Montparnasse, aber auch in den zwielichtig-düsteren Kellerkneipen unter den Markthallen. Der Schriftsteller und Kunstkritiker Wilhelm Uhde (in die Spelunken kommt die Dame nur in Herrenbegleitung) erinnert sich: Im »Caveau des Innocents saßen die jungen Mörder, Kinder, trunken von Liebe und Eifersucht, während draußen Türen schlugen, in der Finsternis Schreie wie von Sterbenden tönten.« Die Atmosphäre der Halbwelt inspiriert Käthe Kollwitz zu einer Reihe von Zeichnungen, die heute zu ihren modernsten Werken gehören.
R. Müller