Bild der 48. Woche - 26. November bis 3. Dezember 2001
Trübsinn, Schwermut und Weltschmerz sind nur einige Begriffe, die gemeinhin mit dem Gemütszustand der Melancholie verbunden werden. Die wohl bekannteste Versinnbildlichung der Melancholie schuf Albrecht Dürer mit seinem gleichnamigen Kupferstich aus dem Jahre 1514. Dieses Blatt, von dem sich ein besonders guter Abzug in der Graphischen Sammlung des Wallraf-Richartz-Museums - Fondation Corboud befindet, gehört zu den bekanntesten Druckgraphiken überhaupt. Es enthält ein wahres Universum an Symbolen und Andeutungen, was dieser meisterhaften, an technischer Raffinesse kaum zu übertreffender Graphik seit jeher die Aura des ewig Geheimnisvollen verliehen hat. Kaum ein Werk der Kunstgeschichte ist so oft besprochenen und kommentiert worden, wie die Melancholie. Dürer selbst hat seinen Meisterstich links oben als Melencolia I bezeichnet, wobei unstrittig ist, daß sich dieser Titel auf die große engelhafte Frauengestalt bezieht, die seit nunmehr fast 500 Jahren immer von neuem fasziniert. Alle Aufmerksamkeit richtet sich zunächst auf diese sitzende, den Bildraum dominierende Gestalt. Den Kopf mit der linken Hand gestützt, richtet sich ihr grüblerisch-versonnener Blick nicht etwa in die im Hintergrund angedeutete Ferne, sondern vielmehr nach innen, folgt den eigenen Gedanken. Ist es vielleicht die Unergründlichkeit unserer Existenz, die sich, wie in keinem zweiten Werk der bildenden Künste, im undurchschaubaren Minenspiel der personifizierten Melancholie ausdrückt? Die Frage nach dem Sinn des Daseins, nach den letzten Dingen, scheint ihrer Haltung, Gestik und Mimik eingeschrieben. Angesichts dieses Blattes haben sich Generationen von Betrachtern wieder und wieder mit diesen immer gleichen, ewigen Fragen konfrontiert gesehen. Die Nachdenklichkeit gilt deshalb auch als einer der positiven Aspekt der Melancholie und schon Aristoteles hatte sich gefragt, warum alle herausragenden Philosophen, Dichter, Politiker und Künstler eigentlich Melancholiker waren. Für die Neuplatoniker der Dürerzeit war der Melancholiker dann sogar zu überragenden geistigen Leistungen veranlagt. Diese Aufwertung wird auch Dürers Selbstbild als Künstler geprägt haben. Aus seinen kunsttheoretischen Aufzeichnungen wissen wir, daß er selbst den Zustand grundloser Traurigkeit und Weltfurcht kannte, eine Verfassung, die auch heute noch als charakteristisch melancholischer Grundzug gilt. Aus dieser eigenen Erfahrung heraus schuf Dürer mit der Melancholie eine komplexe Metapher eines Gemütszustandes, dessen Wirkungsmacht bis in die Gegenwart reicht. Wenn sich z.B. die Zeitschrift "Psychologie heute" in ihrer aktuellen Ausgabe unter dem Titel MELANCHOLIE - DAS GEFüHL, DAS UNS KLüGER MACHT mit der Melancholie befaßt, darf auch dort eine Abbildung des Dürer-Blattes nicht fehlen (s. kleines Bild). Dürers Melancholie kann als verschlüsseltes Selbstbildnis des Künstlers verstanden werden, zumal Dürer den Titel aus einem Traktat des Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486 - 1535) übnernahm, der zwischen drei Kategorien von schöpferischen Melancholikern unterscheidet. Sind die beiden obersten Kategorien dem Gelehrten und Theologen vorbehalten, so tritt an dritte Stelle, als Melencolia I benannt, bereits der Künstler, der aus seiner Einbildungskraft heraus arbeitet. Ein Produkt dieser Einbildungskraft ist Dürers phantastische Druckgraphik der Melancholie, die Sie sich unbedingt im Original ansehen sollten.** Vorlage von Originalen der Graphischen Sammlung des Wallraf-Richartz-Museums - Fondation Corboud: Dienstags und Mittwochs zwischen 10.00 Uhr und 16.00 Uhr. Weitere Informationen unter Tel.: 221-23492 oder 221-24405.
O. Mextorf