Bild der 44. Woche - 29. Oktober bis 5. November 2001
Eigentlich ist es fast immer die Sonne, die in den Bildern Claude Lorrains die Hauptrolle spielt, in unserem Bild aber tut sie es sogar in einem doppelten Sinne. Denn zum einen erscheint die Sonne, so wie in den meisten anderen Bildern des Malers auch, als Himmelsgestirn, das hier am Horizont untergeht und die Hafenszene in ein goldenes, unwirkliches Abendlicht taucht. Zum anderen aber erscheint die Sonne auch in Form einer im Bild erzählten Episode aus dem antiken Sonnenmythos. Dieser Sonnensage nach stieg der Sonnengott Helios jeden Morgen mit seinem Sonnenwagen, den vier feurige Rösser zogen, aus dem Meer in den Himmel auf, um der Welt das Licht zu bringen. Die Kinder des Helios waren die Heliaden, und vier dieser Töchter der Sonne, stehen im Vordergrund unseres Bildes. Sie weinen, denn sie trauern um ihren Bruder Phaëton, der vom Himmel gefallen ist, und sie fragen den Schäfer, ob er ihnen den Weg zu der Stelle zeigen kann, an der Phaëton auf die Erde schlug, damit sie ihn dort betrauern können. Zu diesem Unglück war es gekommen, als Helios den Bitten seines jungen Sohnes nachgegeben hatte, der sich nichts sehnlicher wünschte, als einmal ganz allein den Sonnenwagen durch den Himmel lenken zu dürfen. Phaëton aber konnte die wilden Pferde auf ihrem Weg durch die himmlischen Winde nicht bändigen. So rissen die Pferde zuerst eine große Wunde in den Himmel, aus dem die Milchstraße entstand, und dann stürzten sie in der Nähe des Äquators zur Erde, verbrannten das Land zur Wüste und ließen die Menschen, die dort lebten, schwarz werden. Der Göttervater Zeus wußte in der Eile kein anderes Mittel, um Phaëtons Amokfahrt zu stoppen, als ihn mit einem Blitz vom Himmel zu schlagen. Über der Mündung des Flusses Eridanos, der heute Po genannt wird, stürzte Phaëton zur Erde, und das Licht der untergehenden Sonne auf unserem Bild scheint seinen Untergang widerzuspiegeln. Die Tränen der trauernden Heliaden, so erzählt die Sage weiter, wurden später in Bernstein verwandelt, und bernsteinfarben schimmert auch hier das Abendlicht. Charakteristisch für Lorrains Bildkompositionen ist auch sein häufiges Wiederverwenden besonders imposanter Architekturen, welche die vergangene Größe des goldenen Zeitalters der Antike heraufbeschwören sollen, wie die Tempelruine am rechten Bildrand oder das mächtige viertürmige Bauwerk in der Bildmitte. Das reale Vorbild für diese viertürmige, hier wie antik wirkende Architektur können Sie noch heute in Rom sehen. Es ist die um die Mitte des 16. Jahrhunderts erbaute Villa Medici (kleines Bild), die später zum italienischen Sitz der königlichen französischen Kunstakademie von Paris wurde, der auch Claude Lorrain angehörte.
G. Herzog