Bild der 36. Woche - 8. bis 14. September 2008
Schiebt man den goldglänzenden Deckel der Reliquienkapsel mit der Darstellung der Kreuzigung auf, so fällt der erste Blick auf ein hölzernes Kreuz. Mittig im Inneren der Kapsel befestigt, besteht es aus zwei Splittern des Kreuzes Christi. Es ist die in ihrer Position ausgezeichnete Hauptreliquie. Außen befinden sich mehrere kleine Fächer wie in einem Setzkasten. Darin sind verschiedene in Stoff gewickelte und mit Pergamentzetteln belegte Reliquienpäckchen in einer Rahmung aus Goldkordeln zu sehen. Sie enthalten vermutlich Knochensplitter oder Berührungsreliquien. Zu den noch lesbaren Aufschriften gehören S. Joachim, S. Johannes Evangelista, S. Petri, S. Bartholomäus, S. Thomas, S. Anna, S. Margaretha und S. Spiridon. Mit dem Heiligen Johannes dem Evangelisten, dem Hl. Petrus und der Hl. Margaretha waren einige der in der Vorstellung des Mittelalters wirkmächtigsten Heiligen vertreten. Das Interesse an Reliquien des Kreuzes Christi, das die Heilige Helena in spätantiker Zeit unter legendären Umständen in Jerusalem aufgefunden hatte und dessen Auffindung mit dem Fest Kreuzerhöhung am 14. September gefeiert wird, war zur Zeit der Entstehung dieser Reliquienkapsel in Westeuropa rasant gestiegen. Mit den zum Ende des 11. Jahrhunderts einsetzenden Kreuzfahrten zogen viele Adlige Europas mit kriegerischer Absicht ins Heilige Land. Die Eroberung der Heiligen Stätten und nicht zuletzt der Reliquien der Heiligen war oberstes Ziel. Kreuzpartikel kamen seit Beginn des 13. Jahrhunderts in großer Zahl als verehrungswürdige Heiligtümer in Klöster, Kathedralen und an Königshöfe Europas und erhielten neue kostbare Umkleidungen aus Gold, Email und Edelsteinen. Wer als Kreuzfahrer oder Pilger zu den Heimkehrenden aus Jerusalem zählte, hatte sicherlich keine Einwände diese Heil verheißenden Relikte auch in seinem persönlichen Besitz zu wissen. Diese Intention war vermutlich auch der Ursprung dieser Reliquiensammlung. Für eine Einordnung der Kapsel in den Kontext der Heilig-Land-Fahrten spricht die ausschließliche Sammlung von Reliquien dort überlieferter biblischer Heiliger, von Aposteln, einer antiken Märtyrerin und eines im Nahen Osten verehrten Bischofs aus Zypern. Die Reliquienkapsel sammelt in einer sehr handlichen Größe den Reliquienschatz ihres Besitzers, wobei ihre feine Verarbeitung zugleich die heiligen Inhalte sichert und ein kostbares Luxusgut ist. Die Öse am oberen Abschluss ermöglichte es die Kapsel als Amulett zu tragen, um die Kraft der Kreuzpartikel und der Reliquien auf den Träger zu vereinen und ihm den Schutz und die Fürsprache Christi und der Heiligen zu sichern. Ob die Kapsel letztlich dem rein privaten Leben zugehörig war, oder aber auch im liturgischen Gebrauch eingesetzt wurde, ist heute nicht mehr genau zu bestimmen. Die Kapsel stammt vermutlich aus einer Trierer Werkstatt, da sie größeren Kreuzreliquiaren (Staurotheken) ähnelt, die aus Trier stammen.
N. Gliesmann