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"Die Schöne und das Biest - Toulouse-Lautrec und die Demimonde"

Bild der 29. Woche - 15. bis 22. Juli 2002

Henri de Toulouse-Lautrec (1864 - 1901): Mademoiselle Marcelle Lender, Brustbild, 1895, Farblithographie, Wallraf-Richartz-Museum - Fondation Corboud, Graphische Sammlung, Inv.-Nr.1974/45, 32.6 x 24.7 cm (Motiv)
Abb.1: Henri de Toulouse-Lautrec: Au restaurant (aus der Wochenzeitschrift "Le Rire"), 1895, Farb-Lithographie, 32.0 x 42.0 cm (Motiv), Inv.-Nr. 1942/570, Graphische Sammlung Wallraf-Richartz-Museums - Fondation Corboud; Abb.2: Ausstellungsplakat "Fin de Siècle – Die graphischen Künste Europas um 1900", Wallraf-Richartz-Museum Köln, 5.12.1998 – 21.2.1999

Fin de siècle: das 19. Jahrhundert, gekennzeichnet durch Restauration, Revolution und Industrialisierung, nähert sich seinem Ende. Eine Epoche, geprägt durch Begriffe wie Endzeitstimmung und Dekadenz. Soziale Umbrüche und rauschhafte Zustände bestimmen das Leben gleichermaßen. Die Metropolen, allen voran Paris, taumeln in einem Zustand hitziger Erregung dem neuen Jahrhundert entgegen. Wie kaum ein anderer hat Henri de Toulouse-Lautrec (1864 - 1901) diese aufgekratzte Atmosphäre in seinem künstlerischen Werk festgehalten. Seine berühmten Plakatentwürfe für die Vergnügungslokale auf dem Montmartre machen ihn nicht nur zu einem der großartigsten Gestalter in der Geschichte dieses Mediums, sie sind auch über 100 Jahre nach seinem Tod immer noch ein Synonym für das ausgelassene Treiben über den Dächern von Paris. Eine der schillernden Gestalten dieser Welt des Can Can, des Moulin Rouge und der Maison de la Galette ist Mademoiselle Marcelle Lender. Sie ist die große Attraktion im Théâtre des Variétés am Boulevard Montmartre, wo sie allabendlich in der Rolle der Galaswintha in der Operette Chilpéric auftritt. Höhepunkt einer jeden Aufführung wird der von ihr unter großem Applaus getanzte Bolero. Natürlich treffen wir hier auch auf Toulouse-Lautrec, einen intimen Kenner der Pariser Vergnügungsszene, von dem es heißt, er habe die Operette nahezu zwanzig Mal besucht. Doch ist es weniger der Inhalt der Posse, als vielmehr die Präsenz der Aktrice Marcelle Lender, die den Künstler wieder und wieder hierher ins Variété führt. Dort sitzt er immer in einer der ersten Reihen links und zeichnet. Zeichnet die Lender aus immer derselben Perspektive. Das künstlerische Ergebnis seiner Besuche sind sechs Lithographien, zu denen auch unser Blatt gehört. Es zeigt die Künstlerin in Nahansicht, in dem Moment, in dem sie sich am Ende ihres Auftritts huldvoll dem ihr ergebenen Publikum zuwendet, um dessen Ovationen entgegenzunehmen. Kostüm und Frisur unterstreichen die Extravaganz ihrer Persönlichkeit, die Lautrec mit einer grellroten Profillinie eindrucksvoll zu steigern weiß. Und kommt hier nicht auch etwas von der dämonischen Dimension der femme fatale zum Ausdruck, von jener Vorstellung also, in der die Frau am fin de siècle zu einem für den Mann mitunter tief beunruhigenden Wesen stilisiert wird? 1895, das Entstehungsjahr unserer Graphik, wird ein Wendepunkt im Leben Lautrecs. Lange Zeit ist Montmartre sein Lebensmittelpunkt gewesen, er der Porträtist der butte*. Hier, am Rande der bürgerlichen Welt, hat er sich von den Zwängen seiner adligen Herkunft befreit. Hier findet der aufgrund einer Krankheit kleinwüchsige Mann eine gewisse Anerkennung, wird akzeptiert. Hier spürt er die Motive für seine Zeichnungen und Gemälde auf. Genau beobachtet er seine Mitmenschen in ihrem täglichen Umfeld: die Tänzerinnen auf der Bühne oder beim Rendezvous mit ihren Verehrern im Café (Abb. 1), die Geschäftsleute und Bankiers in ihrer eleganten Kleidung mit den hohen Zylindern, die gemeinsam mit den Bohémiens und Künstlern die Bars und Tanzlokale bevölkern. Um die Mitte der 1890er Jahre jedoch zieht Lautrec sich mehr und mehr aus dieser lauten Öffentlichkeit zurück. In der intimen Häuslichkeit des Bordellmilieus entstehen jetzt Arbeiten, die nicht etwa den voyeuristischen Blick eines Außenseiters dokumentieren. Nein, es entstehen sensible Darstellungen privater Momente, die Lautrecs unzweideutige Vertrautheit mit den Mädchen und Frauen zum Ausdruck bringen. Lautrecs Kunst - vor allem seine hervorragenden Lithographien - verkaufen sich mittlerweile gut und der berühmte Kunsthändler Ambroise Vollard sorgt dafür, daß das hier gezeigte Porträt im September 1895 in der progressiven deutschen Kunst- und Literaturzeitschrift PAN veröffentlicht wird. Es ist auch technisch eine ganz außerordentliche Arbeit, denn keine andere Lautrec-Graphik ist mit einem derartigen Aufwand gedruckt worden, wie dieses achtfarbig angelegte Blatt. Gut hundert Jahre nachdem Marcelle Lender das Pariser Publikum betörte, entzückte sie an der Jahreswende 1998/99 - nicht nur ein Jahrhundert, ein Jahrtausend geht zu Ende - das Kölner Museumspublikum mit ihrem markanten Profil. Diesmal, um die Besucher ins Wallraf-Richartz-Museum, in die Ausstellung "Fin de Siècle - Die graphischen Künste Europas um 1900" zu locken (Abb. 2). *ugs. für Montmartre, bezogen auf die Lage Montmartres oberhalb der Stadt (franz.: butte = Hügel) Vorlageservice der Graphischen Sammlung: Vorlage von Originalen der Graphischen Sammlung des Wallraf-Richartz-Museums - Fondation Corboud: Dienstags und Mittwochs zwischen 10.00 und 16.00 Uhr. Um eventuelle Wartezeiten zu vermeiden, ist eine telefonische Voranmeldung ratsam. Weitere Informationen unter Tel.: 221-23492 oder 221-24405.

O. Mextorf