"Das vervielfältigte Original"

Bild der 23. Woche - 3. bis 10. Juni 2002

Richard Earlom (~ 1742/43 - 1822): "Früchtestilleben" (nach Jan van Huysum), 1781; Schabkunst und Radierung, Wallraf-Richartz-Museum - Fondation Corboud, Graphische Sammlung, Inv.-Nr. 16859, 55.4 x 41.6 cm, (Platte), 50.0 x 39.2 cm (Motiv)
 
 

Mit der industriellen Revolution kam es in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts in England zu erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen. Die enorme wirtschaftliche Konjunktur - oft erkauft durch krasseste soziale Mißstände - wirkte sich unmittelbar belebend auf den englischen Kunstmarkt aus, der lange Zeit vorwiegend von ausländischen Künstlern beherrscht war. Das sollte sich nun ändern, denn mit König Georg III. kam 1760 ein kunstsinniger Monarch auf den Thron, 1769 wurde die Royal Academy of Arts gegründet und englische Künstlerpersönlichkeiten wie Sir Joshua Reynolds (1723 - 1792) und Thomas Gainsborough (1727 - 1788) erlangten internationale Bekanntheit. Es entfaltete sich ein breites Spektrum künstlerischer Tätigkeit.# Vor diesem Hintergrund ist auf dem Gebiet der englischen Druckgraphik eine interessante Entwicklung zu beobachten: es hatte sich ein eigenes Sammlerpublikum entwickelt, das sich auf hochwertige Gemäldereproduktionen in Form von Druckgraphiken - vor allem Schabkunstblätter - spezialisiert hatte. Einer der berühmtesten englischen Reproduktionsstecher dieser Zeit war Richard Earlom. Seine verblüffende handwerkliche Meisterschaft faszinierte schon seine Zeitgenossen. Sein Metier war die Schabkunst - auch Mezzotinto genannt - und Earlom unumstritten einer ihrer bedeutendsten Repräsentanten. Die Funktion der Schabkunst als druckgraphisches Verfahren zur hochrangigen Gemäldereproduktion ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung und entwickelte sich im England des 18. Jahrhunderts zu voller Blüte. So wurden viele der in der Londoner Royal Academy gezeigten und von Privatsammlern erworbenen Gemälden großer Meister oft unmittelbar nach den Ausstellungen als Schabkunstblätter einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Das hier vorgestellte Blatt ist eins von mehreren berühmten Blättern, die Earlom nach Gemälden des Amsterdamer Stillebenmalers Jan van Huysum (1682 - 1749) anfertigte. Huysum war ein überaus geschätzter Maler, dessen lichte Feinmalerei den Geschmack vermögender Käufer fand, die durchaus stolze Preise für seine Arbeiten zu zahlen bereit waren. Earloms Blatt wiederum geht auf eine Zeichnung von Joseph Farrington (1747-1821) zurück, der um 1775 Huysums Gemälde kopiert hatte. Als Earlom seine Blätter schuf, waren die Originale bereits nicht mehr in England, sondern in der St. Petersburger Eremitage, in der Sammlung der Zarin Katharina II. Die Reproduktion des Huysumschen Bildes wird für Earlom eine Herausforderung gewesen sein, da die Umsetzung der Feinmalerei in ein Schabkunstblatt allerhöchste Anforderungen an ihn stellte. Earlom gelingt es, die durch nuancierte Farbwerte dargestellte Stofflichkeit des überreichen Bouquets in derart differenzierte Grauabstufungen zu übertragen, daß die Oberflächenreize und der malerische Schmelz in dem graphischen Blatt erhalten bleiben (Abb. 1). Durch den Gebrauch unterschiedlicher Wiege- und Schabeisen erreicht Earlom eine fein gestufte und geschmeidige Tonigkeit, die den duftigen Gesamtcharakter des Blattes ausmacht. Durch den Einsatz der Radiernadel intensivierte er die Hell-Dunkel-Kontraste innerhalb des Bildraumes, wodurch eine dramatische Lichtregie entsteht, die dem Blatt bei aller Lieblichkeit des Motivs einen spannungsvollen Gehalt verleiht (Abb. 2).

O. Mextorf