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Bild der 16. Woche - 15. bis 22. April 2002
1808, ein Jahr nachdem Napoleon Truppen nach Spanien gesandt, den König entthront und seinen eigenen Bruder an dessen Stelle gesetzt hatte, erhob sich das spanische Volk gegen die französische Fremdherrschaft. Es folgte ein langjähriger, von beiden Seiten mit aller Härte und Grausamkeit geführter Krieg. Eine der Heldinnen dieser Kämpfe war Augustina de Aragón. Der Überlieferung nach soll sie durch ihr mutiges Handeln die Wende in der Belagerung von Saragossa herbeigeführt haben. Genau diesen Moment, in dem Augustina über die Gefallenen hinwegsteigt, um das verlassene Geschütz abzufeuern, stellt Goya in dem Blatt Que valor! (Welcher Mut!) dar. Durch dramatische Hell-Dunkel-Kontraste in seiner Wirkung gesteigert, überhöht Goya das entschlossene Handeln der jungen Frau zu einem symbolhaft aufgeladenen Sinnbild des Freiheitskampfes der Spanier. Das Blatt gehört zu den sogenannten Desastres de la Guerra (Schrecken des Krieges), die neben Piranesis Carceri wohl eine der bekanntesten Graphikfolgen überhaupt sind. Immer wieder ist auf die "Eindringlichkeit" der Desastres hingewiesen worden, darauf, daß die Darstellungen "die unmittelbare Niederschrift seiner eigensten Reaktionen" waren. Es heißt, Goya habe, von einem Diener gefragt, warum er "diese Barbareien der Menschen" darstelle, geantwortet: "Um die Menschen für ewig zu mahnen, nie mehr Barbaren zu sein." Dieser appellhafte Charakter erklärt vielleicht die nicht nachlassende Aufmerksamkeit für die Desastres. Das abgründige Bild, das Goya von der menschlichen Natur zeichnet, dürfte angesichts nicht enden wollender Kriege mittlerweile universelle Bedeutung erlangt haben (Abb. 1). Im Vergleich mit der Malerei wirken Druckgraphiken auf viele Betrachter auf den ersten Blick mitunter ein wenig spröde. Grund hierfür ist sicher die formale Beschränkung: bei einer Radierung oder Aquatinta etwa auf lineare, bzw. flächig angelegte Strukturen in Grauabstufungen. Doch gleichzeitig ist diese Reduktion auch Bedingung für die suggestive Kraft der Darstellung. Wenn Goya z.B. Bildräume in ihrer formalen Gestaltung oft bewußt undifferenziert hält, lenkt er so die Aufmerksamkeit des Betrachters gezielt auf das zentrale Bildgeschehen (Abb. 2). Ist es nicht dieser Abstraktionsgehalt, der die Ungeheuerlichkeiten, die Goya zur Darstellung bringt, erst erträglich, im Sinne von anschaubar, macht? Die abstrahierende Sicht verschafft so eine notwendige Distanz und bewirkt, daß die Reaktionen des Betrachters nicht allein Schmerz und Abwehr sind. Die ungeheure Wucht, die die Blätter dennoch entwickeln, liegt jedoch nicht allein in der Drastik des Geschehens begründet. Der Betrachter wird immer auch Elemente seiner eigenen Vorstellungswelt in das Bild hineinbringen. Diese persönliche Komponente erklärt vielleicht die besondere Eindringlichkeit der Blätter. Erste Arbeiten an den Desastres sind für 1810 nachgewiesen. Später ergänzte Goya die Folge um Darstellungen der Hungersnot von 1811/12 und politische und gesellschaftliche Themen der Restaurationszeit. Aus der thematischen Vielfalt ergab sich jetzt ein mehrteiliges und uneinheitliches Gesamtbild. Aus korrigierten Numerierungen geht hervor, daß Goya die Reihenfolge und somit die Gesamtkomposition der Desastres mehrfach verändert hat. War er der Uneinheitlichkeit des Gesamtbildes bewußt? Vielleicht war dies einer der Gründe, warum die Desastres nicht mehr zu seinen Lebzeiten, sondern erst 1863 in einer offizielle Auflage erschienen. Weitere Auflagen der mittlerweile verstählten Platten folgten bis weit ins 20. Jahrhundert.
O. Mextorf