Bild der 9. Woche - 25. Februar bis 4. März 2002
Gegenstand dieses Bildes der Woche ist: Giovanni Battista Piranesi (1720 - 1778), Die Zugbrücke, aus der Radierungsserie "Carceri d'Invenzione" (Erfundene Kerker). Die Carceri als Symbol existentieller Bedrohung Piranesis Carceri: zu Architektur geronnene, alptraumhafte Angstzustände, blasphemische Abkehr von der göttlichen Weltordnung, Inbegriff labyrinthischer Schreckensvisionen. Immer wieder haben diese einzigartigen Blätter die Phantasie der Betrachter angeregt. Die Liste von Interpretationen ließe sich fast beliebig verlängern. Die Carceri sind nicht nur Piranesis berühmtesten Radierungen, sie gehören wohl zu den bekanntesten Graphik-Folgen überhaupt. Vielfältigste Deutungsversuche haben dazu geführt, daß die zweifellos faszinierenden Blätter immer noch von einer Aura des Geheimnisvollen, des Mystisch-Absonderlichen umgeben sind. Mit Marguerite Yourcenar kann man daher einer Meinung sein, wenn sie die Carceri "zu den geheimnisschwersten Werken, die uns ein Mensch des 18. Jahrhunderts hinterlassen hat", zählt. Wie läßt sich die nach wie vor ungebremste Aktualität dieser Blätter erklären? Sind sie vielleicht der allgemeingültige Ausdruck einer existentiellen Bedrohung? Das könnte ein Grund dafür sein, daß diesen Kerker-Darstellungen von jeher eine Sonderrolle zugebilligt wurde. Doch die Carceri haben unter den zahllosen, zumeist romantisierenden und psychologisierenden Interpretationen auch gelitten. Denn was nahezu verloren ging, ist der über Piranesis Gesamtwerk vermittelte Zugang zu den Blättern. Gerade im Gesamtzusammenhang seines Schaffens wird deutlich, daß die Carceri Bestandteil eines sich kontinuierlich entwickelnden Programms sind und ihre Sonderstellung somit ein Konstrukt. Die Carceri in ihrer Zeit 1742, im Alter von gerade einmal 22 Jahren, begann der Giovanni Battista Piranesi offenbar seine Arbeit an dieser Radier-Folge. 1750 erschien eine erste Fassung mit vierzehn, 1761 eine zweite mit sechzehn Blättern (s. kleines Bild links oben: Titelblatt). Zwischenzeitlich hatte Piranesi die Platten stark überarbeitet, dabei zahlreiche Details hinzugefügt, um eine wesentlich dramatischere Hell-Dunkel-Wirkung zu erzielen. Entstanden sind großformatige Blätter mit Innenansichten einer düster und schroff wirkenden Architektur. Die ungeheuren Steinmassen und das Labyrinthische ihrer Struktur steigern diese Wirkung ins Visionäre (s. kleines Bild rechts oben: Der runde Turm). Mögen dem heutigen Betrachter diese gigantischen, in ihrer Form übersteigerten Folterkammern (s. kleines Bild links unten: Die große Piazza) irreal erscheinen, so waren Kerker-Darstellungen für die Zeitgenossen des 18. Jahrhundert durchaus nichts Außergewöhnliches. So waren Gefängnisszenerien ein häufiges Motiv barocker Theaterdekorationen und in zahlreichen Opern spielte die Kerkerszene eine zentrale Rolle. Piranesi also kannte dieses Motiv gut. Schon 1743 hatte er in der Folge der Prima parte di Architetture seine Vorstellungen von architektonischen Strukturen u.a. mit Hilfe des Kerker-Motivs veranschaulicht (s. kleines Bild rechts unten: Carcere oscura (Dunkler Kerker), aus: "Prima Parte di Architettura..."). Hier bot sich ihm die größte Variationsbreite für seine Architekturvisionen, die durch die Antike angeregt waren und ihm halfen, seine theoretischen und künstlerischen Maßstäbe und Positionen zu definieren. Und dennoch: keine wissenschaftlich noch so fundierte Einordnung der Carceri in Piranesis Oeuvre wird verhindern, daß diese Darstellungen auch im 21. Jahrhundert eine autonome, vom Werk abgelöste Aktualität behalten werden. Denn die existentielle Bedrohung ist in einer selbstvergessenen Welt nicht erst seit dem 11. September 2001 von immerwährender Präsenz. Die Betrachtung der Carceri wird auch zukünftig kaum jemanden gleichgültig lassen. Vorlage von Originalen der Graphischen Sammlung des Wallraf-Richartz-Museums - Fondation Corboud: Dienstags und Mittwochs zwischen 10.00 Uhr und 16.00 Uhr. Der Vorlageservice ist im Eintrittspreis des Museums enthalten. Weitere Informationen unter Tel.: 221-23492 oder 221-24405.
O. Mextorf