Wir überarbeiten zur Zeit unser Online-Angebot. Daher pausiert das "Bild der Woche" aktuell.
Vielen Dank für Ihr Verständnis

"Unsere liebe Gertrud": Ein Beispiel zivilen Widerstands

Bild der 24. Woche - 13. Juni bis 19. Juni 2022

Gertrud Heuft (links) mit Leopold Schönenberg und einer unbekannten Freundin der Familie auf dem »Küchenbalkon« der Wohnung Venloer Straße 23, September 1933, Foto: NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Von Gertrud Heuft wissen wir weder, wann sie geboren wurde, noch kennen wir ihren Todestag. Bekannt ist, dass sie aus Obermendig stammte und zu den jungen Frauen zählte, die es nach dem Ersten Weltkrieg in großer Zahl aus der bäuerlichen Welt der Eifel in die be nachbarten Großstädte trieb. Hier arbeiteten sie gegen Unterkunft, Verpflegung und ein kleines Taschengeld als Hilfskraft in bürgerlichen Haushalten, weil es in ihren armen Elternhäusern kein Auskommen für sie gab.

Gertrud kam im Laufe der 1920er-Jahre nach Köln, wo sie beim jüdischen Arzt Dr. Max Schönenberg eine Anstellung als Haus- und Kindermädchen fand. Der wohnte zu jener Zeit mit Ehefrau Erna und dem 1920 geborenen Sohn Leopold in der Venloer Straße 23, wo er eine Praxis als Allgemeinmediziner führte. Das geradezu freundschaftliche Angestelltenverhältnis nahm im Herbst 1935 ein abruptes Ende, als die jüdische Bevölkerung durch die berüchtigten »Nürnberger Gesetze« weitgehend aus der deutschen Gesellschaft ausge schlossen wurde. Juden war es fortan auch untersagt, nichtjüdische Haus haltshilfen unter 45 Jahren zu beschäftigen. Gertrud Heuft musste die Schönenbergs verlassen und in die Eifel zurückkehren.

Spätestens nach dem Pogrom vom 9. November 1938 nahm sie den Kontakt nach Köln wieder auf. »Zwei Nach mittage diese Woche«, so berichtete Max Schönenberg Mitte Januar 1939, sei »unsere alte Gertrud« wieder in der Venloer Straße zu Besuch gewesen. Das wurde zum Dauerzustand. »Unsere alte Gertrud war hier«, schrieb Erna Schönenberg am 12. November 1939. »Es ist wohltuend, welches Interesse sie an uns allen nimmt.« Gertrud Heuft legte eine für sie offenbar selbstverständliche Mit menschlichkeit an den Tag, zu der sich immer weniger sogenannte »arische« Deutsche durchringen konnten. Sie ist ein beeindruckendes Beispiel für die Handlungsspielräume, die jeder und jedem auch unter den Bedingungen von Diktatur und Krieg offenstanden – allerdings weitgehend ungenutzt blieben.

Dabei beließ Gertrud Heuft es keineswegs bei freundschaftlichen Besuchen, ihr persönlicher Einsatz verstärkte sich, je mehr sich die Lage der Schönen bergs zuspitzte. Nachdem deren Wohnhaus 1941 zum Gettohaus geworden war, in dem mehr und mehr mittellose Jüd*innen eng zusammengepfercht bei unzureichender Versorgung leben mussten, kam sie nicht nur immer öfter zu Besuch, sondern begann, immer mehr Kartoffeln, Obst und Gemüse aus der väterlichen Landwirtschaft in die Venloer Straße 23 zu tragen. »Sie haben uns mit Ihrer prachtvollen Sendung eine sehr große Freude gemacht, meine liebe Gertrud«, bedankte sich Erna Schönenberg kurz vor Beginn der Deportationen am 14. Oktober 1941. Familie Heuft versorgte längst auch weitere Bewohner*innen des Hauses regelmäßig mit Lebensmitteln. Gertrud vergaß auch nicht, ihrer ehemaligen Arbeitgeberin zu deren Geburtstag mit einer Sonderlieferung zu gratulieren. »Wie gut kann ich alles gebrauchen! Ihre liebe Gabe hat mir sehr geholfen! Und wir wollen beim Verbrauch auch immer der lieben Geberin gedenken«, dankte ihr eine tief berührte Erna Schönenberg.

Da sich der Mangel bald zum Hunger auswuchs, wurde sie – ganz gegen ihr Naturell – schließlich zur Bittstellerin. »Nun noch eine Bitte, liebe Gertrud«, schrieb sie im November. »Die Kartoffelnöte werden hier immer ärger. Ich gehe gern auf Ihr Anerbieten ein und bitte Sie, mir einen Zentner zu schicken. Macht es Ihnen nichts aus, dann bitte zwei Zentner, selbstverständlich gegen Bezahlung. Wir haben alle hier Kartoffeln zum Einkellern be stellt – aber ich kenne niemanden, der sie erhalten hat.« – Tatsächlich wurde kurz darauf nicht nur der obligatorische Korb mit Kartoffeln und Obst aus Obermendig in die Venloer Straße 23 zugestellt, tags darauf folgten noch zwei Zentner Kartoffeln – alles natür lich geschenkt. Auch als die Schönenbergs Anfang März 1942 in die Baracken des Sammellagers in Köln-Müngersdorf umziehen mussten, ließ Gertrud Heuft in ihrer Hilfe nicht nach. Im Gegenteil: Sobald sie davon erfahren hatte, kündigte sie ihren Besuch in dem Lager an, wo die Insassen unter völlig unzumutbaren Umständen hausten und um das der Großteil der Kölner Bevölkerung einen großen Bogen machte. Gertrud hingegen – wieder mit reichlich Proviant bepackt – zog beherzt los nach Müngersdorf.

Seine Frau habe ihm, so teilte ihr Max Schönenberg mit, »ausführlich und innerlich bewegt von Ihrem lieben Besuch erzählt«. (…) »Sie haben so viel Treue und Anhänglichkeit bewiesen, daß wir täglich an Sie erinnert werden.« Und Erna Schönenberg selbst teilte im Mai nach Obermendig mit, sie »zehre noch in jeder Weise von Ihrem lieben Besuch«. Als die Schönenbergs Mitte Juni 1942 dann selbst zur Deportation aufgerufen wurden, war es für sie eine Selbstverständlichkeit, sich persönlich von ihrer treuen Helferin zu ver abschieden und ihr nochmals ihren Dank auszusprechen: »Leben Sie wohl, liebe Gertrud. Ich danke Ihnen für Ihren lieben Brief & Ihre Grüße.« Am 15. Juni 1942 verließ der Deportations zug Köln in Richtung Theresienstadt, wo Max Schönenberg am 8. Januar 1944 an Flecktyphus starb. Seine Frau Erna wurde am 9. Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert und dort vier Tage später ermordet. All das konnte Gertrud Heuft natürlich nicht verhindern. Sie ließ sich jedoch nie davon abhalten, den Bedrängten im Rahmen ihrer Möglich keiten zu helfen.

Für die Schönenbergs und deren Mitbewohner*innen war die gewährte Zusatzversorgung außerordentlich hilfreich. Als noch wichtiger aber empfanden sie die Mitmenschlichkeit, die »ihre« Gertrud ohne Angst vor Konsequenzen zeigte. Die offen sichtliche Selbstverständlichkeit, mit der sie das tat, war, ist und bleibt gleichermaßen beeindruckend wie anrührend – stellt zugleich aber leider auch eines der eher seltenen Beispiele von Zivilcourage dar. Diese blieb im Übrigen ohne jegliche negativen Kon sequenzen. Es verwundert nicht, dass die Schö nenbergs Gertrud Heuft schließlich auch ihre allerletzte Habe anvertrauten. Als Schönenbergs Sohn Leopold – der sich nun Reuven nannte und der Deportation entkommen war – Ende der 1950er-Jahre erstmals wieder Köln besuchte, konnte Gertrud ihm ein Gemälde, Kristallvasen und als besonderes Vermächtnis die goldene Taschenuhr seines Vaters Max überreichen.

M. Rüther