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Bild der 32. Woche - 10. August bis 16. August 2015
Dieses Objekt strahlt eine eigentümliche Lebendigkeit aus: Vier stämmige Beine, breit gespreizt, tragen einen gedrungenen Kristallkörper. Dessen Zylinderform ist nicht geometrisch perfekt: Zur Mitte hin nimmt der Kristall an Umfang zu; der Querschnitt ist oben leicht zugespitzt, so dass sich ein Grat bildet. Man denkt an Rumpf und Rist eines Tieres. In diesem Kontext erinnert der stilisierte Palmettenfries, der die Stirnseiten kreisförmig umgibt, unwillkürlich an eine gesträubte Mähne.
Dazwischen starrt allerdings kein Löwenhaupt: von Goldfiligran umrankte Edelsteine umgeben einen "Bergkristallcabochon" (s. Wikipedia), der auch in der frontalen Ansicht den Blick auf den Inhalt des ausgehöhlten Kristallzylinders ermöglicht. Der Hohlraum barg ursprünglich eine Reliquie – winzige Überreste eines Heiligen.
Die als heilbringend verehrten Reliquien wurden lange Zeit unsichtbar aufbewahrt, in geschlossenen Schmuckgefäßen verschiedenster Form. Ein zunehmender Drang nach Anschaulichkeit und Anschaubarkeit der Glaubenswahrheiten führte um 1200 zur Entwicklung neuer Präsentationsformen. Köln gehörte in dieser Hinsicht zur Avantgarde: An dem eben entstehenden Dreikönigenschrein ermöglichte ein strategisch platziertes Gitter unter einer abnehmbaren Platte erstmals die gezielte Sichtbarmachung der im Schrein geborgenen Reliquien.
Das Kristallreliqiuar zitiert mit dem zinnengeschmückten Firstkamm und den Bergkristallknäufen ein typisches Element kölnischer Reliquienschreine. Der Kamm und die seitlichen Metallbänder sind zwar offensichtlich später ergänzt worden, gehören aber konzeptionell zur Standardausstattung der zylindrischen Bergkristallreliquiare, deren Herstellungszentrum in Köln vermutet werden darf, zumal die Stadt ein wichtiges Zentrum der Kristallverarbeitung war. Dass man hier auch technisch auf dem neuesten Stand war, darauf deuten charakteristische Spuren auf der Hohlraumwandung unseres Kristalls: Offensichtlich ist dieser Block nicht mehr durch Hämmern und Schleifen ausgehöhlt worden, sondern mit Hilfe eines um 1200 neu entwickelten Bohrverfahrens.
Allerdings waren auch die besten westlichen Werkstätten noch weit entfernt von der Kunstfertigkeit arabischer Steinschneider. Deren Erzeugnisse – Salbgefäße, Fläschchen, aber auch massive Tierfiguren – wurden daher in großer Zahl importiert und auch zur Reliquienpräsentation umgenutzt, wobei man zum Teil massive Stücke nachträglich aushöhlte. Diese Praxis mag die Entwicklung unseres Reliquiartyps beeinflusst haben. In der Umsetzung dieser Anregungen allerdings entsteht etwas ganz Eigenes: kreatürliche Körperlichkeit, himmlischer Gold- und Edelsteinglanz und die schier unvergängliche Klarheit des Bergkristalls verbinden sich, um die transformierende Kraft der Reliquie anschaulich zu machen.
L. Huppertz