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Der Schrei der gepeinigten Kreatur

Bild der 37. Woche - 7. bis 14. September 1998

Marino Marini Klagendes Pferd, 1950, Museum Ludwig, Köln, ML 76/SK 131, Bronze, 52 x 28,5 x 38,5 cm

Seit der Antike sind Darstellungen von Pferden immer wieder Höhepunkte in der Geschichte der Kunst gewesen, ob man nun an die Statue des Mark Aurel in Rom denkt, an die Reiterstatuen eines Donatello oder an die Denkmäler deutscher Kaiser. Diese 1950 geschaffenen Skulptur des italienischen Bildhauers Marino Marini (1901-1980) ist in ihrer architektonisch anmutenden Komposition pyramidenartig angelegt. Das Werk ist weder eine Monumentalskulptur noch nähert es sich der Lebensgröße eines Pferdes an. Es fällt im Gegenteil in einen Gattungsbereich, den man als "Kleinskulptur" bezeichnet. Durch die deutliche Unterlebensgröße gewinnt das Werk einen eigenen Bedeutungshorizont. Das Vermitteln von Herrschermacht oder historischer Bedeutung ist in diesem Maßstab kaum noch möglich - vielleicht sogar unmöglich. Vielmehr gewinnt das Werk etwas Modellhaftes, Spielerisches. Dennoch entsteht nicht der Eindruck des Nebensächlichen. Die Skulptur Marinis ist in ihrer Bedeutung nicht "leicht" oder "übersehbar". Die Wirkung geht weit über eine "Briefbeschwerer-Ausstrahlung" hinaus. Ihre eigentliche Bedeutung bezieht die Skulptur Marinis aus der sich erst bei genauerem Hinsehen erschließenden Ferne zur Natur. Die Beine des Pferdes sind dürr und nur kaum erkennbar in Unter- und Oberschenkel gegliedert. Der Schweif ist kurz und steil aufgerichtet, der Hals eckig, dünn und weist unnatürlich steil nach oben, der Kopf wirkt mit seinen hervortretenden Augen knöchern und angsterfüllt. Augenscheinlich ist hier eine Kreatur in Not: Ihre Körperhaltung, die abgespreizten Beine, der aufgerichtete Hals, ihr dürrer Körper, das wie zum Schrei geöffnete Maul, die rauhe, durchlöcherte Haut des Tieres. Marino Marini selbst nahm zu seinen Pferddarstellungen in der Nachkriegszeit folgendermaßen Stellung: "Wenn Sie meine Reiterstatuen der letzten zwölf Jahre nacheinander betrachten, werden sie bemerken, daß der Reiter jedesmal weniger imstande ist, sein Pferd zu beherrschen, und daß das Tier in stets wilder werdender Angst erstarrt, statt sich aufzubäumen. ... Meine Reiterstatuen drücken die Angst aus, die die Ereignisse meiner Epoche auslösen. Die Erregung meines Pferdes steigert sich mit jedem neuen Werk. Die Reiter sind immer machtloser und haben die frühere Herrschaft verloren ... Mein Werk der letzten vierzehn Jahre verstehe ich nicht als heroisch, sondern als tragisch. Indem Marini ein Pferd als Träger dieses Zeitgefühl der Tragik auswählt, erweitert er den Gedanken der Angst vom Menschen auf die gesamte Schöpfung. Das Pferd, seit Jahrtausenden enger Begleiter des Menschen und Symbol von Herrschaft, Kraft und Macht, schreit auf in Angst. Es ist das reiterlose Pferd, es ist nicht mehr der Weggefährte des Menschen, eher die verlassene Kreatur. Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg mag Marini bei diesem Werk die durch das kriegerische Tun des Menschen verwüstete Natur vor Augen gehabt haben

T. Nagel