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"Wir mussten mit dem Gefühl absoluter Ohnmacht zusehen"

Bild der 45. Woche - 6. November bis 12. November 2023

Projektion der Künstlerin Kane Kampmann am 9. November 2022 an Standort der 1938 zerstörten Synagoge Glockengasse. Die gezeigten Szenen basieren auf den Erinnerungen von Henry Gruen

Zum 85. Jahrestag gedenken wir dem Pogrom vom 9./10. November 1938. Zeitzeugen berichten, was sie in dieser Nacht erleben mussten.

Sie fingen an, »mit den Äxten alles zu zertrümmern«, erinnert sich Henry Gruen in einem Zeitzeugeninterview viele Jahrzehnte später. Heinz Grünebaum, wie Henry damals noch hieß, beobachtete als 15-jähriger die Übergriffe und Zerstörungen im Zuge des Novemberpogroms am 9./10. November 1938 in der Synagoge Körnerstraße in Köln Ehrenfeld. Sein Vater war hier als Kantor tätig. Henry war wie gelähmt: »Es hatte etwas Traumartiges, Fantastisches an sich und ich stand zum Teil manchmal neben Ihnen und blieb einfach stehen und die Leute, die mit den Äxten die Bänke und die Betstände zertrümmerten, ignorierten mich. (…) Ich schaute dem Geschehen zu.«

»Heinz du musst jetzt gehen! Du gehst jetzt!«, hörte er seinen Vater sagen als auch das benachbarte Wohnhaus der Familie zerstört wurde: »Dann bewegte ich mich auf die Hoftüre zu, da war eine Menschenmenge. Ich kann mich nicht erinnern, dass etwas Positives oder Negatives kam. Das war eine stille Masse von Leuten, die sich mir dann öffnete. Es war wie eine etwas leblose Masse.« Kein Mensch nahm sich dem Jungen an, niemand unterband die Zerstörungen. Sie schauten zu, auch als die Synagoge später brannte: »Ich erinnere mich noch an einen, der eine Zigarre rauchte.«

Henry hatte Glück: Er erreichte die Freunde seiner Familie und kam dort unter in einer Nacht, in der die Mehrzahl der jüdischen Gotteshäuser und tausende Geschäfte und Wohnungen zerstört wurden, in der zahlreiche Menschen ermordet, misshandelt und zehntausende verhaftet und in Konzentrationslagern verschleppt wurden. Die Bevölkerung ist vereinzelt schockiert von der Gewalt, schaut vielfach aber zu, macht mit, profitiert gar – während viele Menschen um ihr Leben fürchten in dieser Nacht vom 9. auf den 10. November vor 85 Jahren: »Wir mussten mit dem Gefühl absoluter Ohnmacht zusehen, wie bei Reichenbachs nebenan und bei Gutmanns gegenüber den Fensterscheiben klirrten«, notierte der Kölner jüdische Arzt Max Schönenberg: »Wir warteten von 1 Uhr in der Nacht bis 6 Uhr nachmittags darauf, dass wir an der Reihe wären. Erst dann hörten wird, dass auf Anordnung aus Berlin Ruhe eingetreten wäre.«

Auch der Bruder seiner Frau war unter den Verhafteten. Bis in den Dezember hinein war er im KZ Dachau inhaftiert, erst dann gelang Julius Kaufmann die Emigration in das ferne Shanghai. Daher überlebte er, ebenso wie Henry Gruen, der nach England fliehen konnte. Ihre Familien blieben hier. Sie konnten nicht mehr raus – und wurden deportiert und ermordet: Henrys Eltern und seine jüngere Schwester in Auschwitz. Max Schönenberg kam im Ghetto Theresienstadt um, seine Frau Erna ebenfalls in Auschwitz.

Als Gedenktag soll uns der 9./10. November eine Mahnung sein, stets an diese Ereignisse, an das Leid der Opfer und die Verantwortung der Mehrheit zu erinnern und gegen jedwede Form von Rassismus und Antisemitismus einzutreten.

D. Lukaßen