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Humor – die Waffe der vermeintlichen Ohnmacht

Bild der 30. Woche - 24. Juli bis 30. Juli 2023

Chargesheimer, »Karneval«, 1965, Museum Ludwig, Köln

Fragen darf man ja alles. Doch manche Fragen erledigen sich von selbst. Etwa die, ob die Natur Sonne oder Regen braucht. Ähnlich ist es mit der Frage, was denn richtiger, gar »echter Karneval« sei. Stänkert der gegen die Obrigkeit? Natürlich!

Doch einen Moment später umschmeichelt er sie auf Ehrenplätzen mit Orden. Einerseits fahren Narren die Krallen der Anarchie aus, andererseits sind gerade die Jecken Bewahrer von Heimat und Tradition. Was ist Karneval noch? Ausgelas senheit? »Superjeile Zick« für »Pirate, wild un frei«? Selbstverständlich. Doch die Tränchen beim »Heimweh noh Kölle«, die wohlige Geborgenheit »En unsrem Veedel« sind nicht minder Karneval. Das närrische Portfolio ist weit gespannt. Da skandieren befrackte Mützenträger genüsslich »Ahl Säu!«, und schlaffe Zivilisten schlagen beim Laridah-Marsch die Hacken zusammen. Der Karneval lebt Gegensätze zu Hauf.

Im Lied »Rut sin de Ruse« der Band »De Boore« liegen keine zwei Sekunden zwischen Treueschwur und Dementi. Die Liebesbekundung des Refrains »Do bes mi Hätz, do bes mi Glück, do mähs mich immer noch verrück och noh all denne Johr« kommentiert das Publikum auf dem langgezogenen Schlusston (»Johr«) so laut wie uneindeutig; »Jo, jo – nä, nä!« Von dieser kompositorischen Selbstermächtigung des Narrenvolks ist in der Urfassung des Liedes nichts zu finden. Sind das nun Kindsköpfigkeiten, Dummheiten, gar Vorboten einer bipolaren Störung? Nichts davon. »Jo, jo – nä, nä« ist reines Augenzwinkern. Eine gesungene Selbstanalyse: Ja, so ist das Leben, so sind wir Menschen.
Nur wenig ist eindeutig. Alles künnt och anders sin.

Der Karneval lädt ein, etwas von der verborgenen Vielfalt in uns heraus zulassen. Beim Narrenfest können wir die Diskrepanzen zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen unserem Ideal-Ich und unserer realen Unzulänglichkeit noch mal neu justieren. Im besten Fall söhnen wir uns mit ihnen aus.
Wollten wir nicht mal Filmstar, Kapitän, Präsident werden? Hatten wir nicht mal das Zeug zum Topmodel, zur Astronautin, Weltmeisterin? Hätte man uns damals als Babys im Krankenhaus
nicht vertauscht, führten wir sicherlich ein Leben im Schloss oder wären für die Übernahme eines Firmenimperiums bestimmt. Lachhaft? Ach was! Im Zehnminutentakt tauschten wir einst unsere Rollen, waren König und Bettler, waren Hexe und Elfe. Mit großem Ernst. Die Anderswelt des Karnevals öffnet den Phantasien des Vorschulalters noch mal einen grandiosen Spielraum. Wir dürfen so tun »als ob« – und nichts ist peinlich.

»Do nimmst jeden op dr Ärm un an de Hand«, heißt es im Lied »Do bes Kölle«. Auch uns selber dürfen wir »in und auf den Arm« nehmen. Der augen zwinkernde Blick in den Narrenspiegel gehört zur Selbstachtsamkeit. Im humorvollen Spiel gehen wir auf Distanz zum Kulturbürger, der wir längst geworden sind. Für eine vereinbarte, eine ausgestanzte Zeit dürfen wir auch als Erwachsene noch mal »auf Probe« leben, gehen albernen Größenphantasien nach. Lächelnd und schadlos, ohne die harten Wenn-Dann-Folgen der Realität zu fürchten. Als Narren wissen wir um das Utopische unseres Tuns. Und im glücklichen Fall – Achtung! Jetzt wird’s dialektisch – bezwingen wir den Stachel unserer Sehnsüchte, indem wir ihnen Raum geben. Das subversiv nagende »Hätte, Könnte, Wäre …« – wir spielen es gleichsam in uns ab.

Nicht nur das Individuum, auch ein Kollektiv kann den Abschiedsschmerz vom Größenselbst mit Humor mildern. Und schmerzhaft war für Köln der Verlust der reichsunmittelbaren Freiheit, die es seit dem Mittelalter genossen hatte. Jahrhundertelang war man keinem anderen Herrscher, nur dem Kaiser untertan. Kein Hofadel, sondern das gehobene Bürgertum gab in der Metropole am Rhein den Ton an. Handel und Handwerk (Zünfte) dominierten, auch Künste (Kölner Malerschule) und Wissenschaft, 1388 wurde eine Universität gegründet. Zur Verteidigung der nie gewaltsam eingenommenen riesigen Stadtmauer genügte ein Wachbataillon von Stadtsoldaten, ihrer roten Uniformröcke wegen die »Roten
Funken« genannt.

Mit dem Einmarsch von Napoleons Truppen brach die Selbstidealisierung, »eine Krone – über allen Städten schön« zu sein, in sich zusammen. Dass die Stadt ohne den erzwungenen Systemwechsel in der strukturellen Enge des Mittelalters zu ersticken, ja wortwörtlich zu »erstinken« gedroht hätte, minderte nicht die Schmach. Die fremde Taktvorgabe durch die französische Besatzung (1794 – 1814) und die nachfolgend erzwungene Anbindung an Preußen kratzte am bürgerlichen Selbstverständnis. Mögen zukünftige Generationen vom Aushebeln der Standesordnungen, Traditionen, regionalen
Rituale profitieren – die Gesellschaft damals sah dies als Kränkung der lokalen Selbstachtung.

Für eine politische oder gar militärische Gegenwehr war Köln weder vorbereitet noch ausgerüstet. Was einer unterlegenen Seite aber bleibt, sind Spott und Ironie. Auch die paradoxe Provokation. Statt preußischer Disziplin nachzueifern, kokettierte man mit dem Klischee vom rheinischen Schlendrian. Die
militärisch harmlos verpeilten »Funken« wurden im Rollenspiel revitalisiert, als umjubelte Antihelden. Ihre Uniformen mutierten zu Kostümen, aus dem militärischen Präsentieren wurde die Juxnummer »Stippeföttchen«.

Auch die einst hoch symbolträchtigen Figuren Bauer und Jungfrau besetzen seitdem nostalgisch verklärt lustige Rollen im Narrenspiel. Sie sind nicht mehr Garanten der realen Welt für reichsstädtische Wehrhaftigkeit, für städtische Unversehrtheit und Unbezwingbarkeit. Seit 1823 dürfen sie im Narrenspiel umso glanzvoller so »tun als ob«.

Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Er ist der Schlüssel zum Perspektivwechsel, im Verlorengegangenen langfristig vielleicht auch Chancen zu sehen. In der »verkehrten Welt« federt der Humor die Demütigungen der realen Welt ab. Er gibt dem gekränkten Ich Würde zurück. Humor ist die Waffe der vermeintlichen Ohnmacht. Die Mächtigen fürchten ihn zu Recht.

W. Oelsner