Bild der 11. Woche - 13. März bis 19. März 2023
Durch die Bombenschäden des Zweiten Weltkrieges tauchte im Kölner Rathausbezirk ein wenig erforschtes Kapitel der Stadtgeschichte wieder auf: das mittelalterliche Judenviertel.
Im Mauerwerk der äußeren Seitenwand des gotischen Hansasaales im Kölner Rathaus wurden Fragmente jüdischer Grabsteine wie dieses gefunden, die zu Türgewände verarbeitet worden waren. Sie erinnern an ein trauriges Kapitel Kölner Geschichte. Als 1348 die Pest Europa entvölkerte, hatte man schnell die Schuldigen ausgemacht: Das Gerücht kam auf, die Juden hätten die Brunnen vergiftet. Dass auch die jüdische Bevölkerung der Pest zum Opfer fiel, interessierte ihre christlichen Mitmenschen nicht.
Schon Anfang 1349 fürchtete der Kölner Stadtrat ein Pogrom, wobei ihn weniger das Mitleid leitete als vielmehr die Sorge um Unruhen in der Stadt und damit eine weitere Gefährdung ihrer ohnehin vom Erzbischof bedrohten Stellung. Am Abend des 23. August 1349 hatten die Ältesten der jüdischen Gemeinde sich getroffen, um aus den Nachrichten von allerorten stattfindenden Pogromen Konsequenzen zu ziehen. Sie beschlossen verzweifelt, ihre Häuser zu verbrennen und sich mitsamt ihren Angehörigen in die Flammen zu stürzen. Bevor sie jedoch dazu kamen, stürmte der Mob in jener »kölnischen Bartholomäusnacht« das Ghetto. Das Viertel ging in Flammen auf und der größte Teil der jüdischen Gemeinde fand den Tod. Viele töteten sich selbst, um einer erzwungenen Taufe zu entgehen. Die Überlebenden wurden aus der Stadt vertrieben. Auch der jüdische Friedhof, seit spätrömischer Zeit an der Straße nach Bonn, südlich des Severinstores, gelegen, wurde verwüstet, die Toten auf der Suche nach Wertgegenständen aus ihren Gräbern gezerrt, die Grabsteine als Baumaterial in Köln und Umgebung, zum Beispiel an der erzbischöflichen Burg zu Lechenich, weiterverwendet. Kurz darauf forderte der Stadtrat von den Plünderern die Auslieferung des geraubten Gutes, da die Stadt sich als »Erbe der Juden« ansah. Aber auch der Erzbischof beanspruchte dieses Recht.
1350 einigten sich Stadt und Erzbischof auf eine Teilung des Erbes, wobei mittlerweile auch der Herzog von Jülich Ansprüche angemeldet hatte, da unter den Toten auch »seine Juden« gewesen seien. An das Geschehen der Jahre 1348/1350 schließt unser Grabstein nicht unmittelbar an. Vielmehr stammt er aus dem Jahr 1323, wie aus der Inschrift hervorgeht, und ist Zeugnis des jüdischen Lebens in der Stadt. Die Inschrift lautet übersetzt: »Es starb Frau Rachel, Tochter des R. Schneior, am Dienstag dem 15. Elul des Jahres 83 des sechsten Jahrtausends. Ihre Seele sei geknüpft in den Bund des ewigen Lebens. Amen. Sela.« Das hier genannte Jahr 5083 bezieht sich auf den jüdischen Kalender, der die Jahre mit einer eigenen Monatseinteilung seit der Erschaffung der Welt zählt, wie diese aus den biblischen Daten errechenbar ist. Der Beginn der Welt liegt nach unserer heutigen Zählung im Jahr 3761 vor Christus. Addiert man 5083 jüdische Jahre hinzu, so ergibt sich das Jahr 1323. Der 15. Elul wird etwa Ende August gewesen sein.
R. Wagner