Bild der 06. Woche - 6. Februar bis 12. Februar 2023
Weiße Linien erstrahlen vor tiefschwarzem Hintergrund, sie verzweigen und verdichten sich, bilden im unteren Teil des Bildes strudelnde Strukturen. Was auf den ersten Blick an ein abstraktes Gemälde erinnert, lässt sich bei näherem Hinsehen als das Porträt eines bärtigen Mannes erkennen. Ist das Bild ein modernes Kunstwerk?
Nein! Es handelt sich um eine Röntgenaufnahme – sie zeigt den durchleuchteten Kopf einer mittelalterlichen Holzskulptur, die einen Propheten darstellt. In der Tat gehören naturwissenschaftliche Verfahren wie die Radiologie, die ihren gängigen Gebrauch in der Medizin findet, zu den Untersuchungsmethoden der kunsttechnologischen Forschung. Dieser Zweig untersucht die materielle Beschaffenheit der Kunstwerke und sorgt durch Konservierung und Restaurierung für ihre Erhaltung über die Jahrhunderte.
Untersuchungsgeräte, die man im Chemielabor oder beim Arzt vorfindet, gehören auch zur Ausstattung einer Restaurierungswerkstatt. So wie ein Arzt nach der gebrochenen Stelle im Körper sucht, um zu einer erfolgreichen Diagnose zu gelangen, fahnden Restaurator*innen nach Spuren am Werk, die nicht mit bloßem Auge zu erkennen sind. Diese versteckten Hinweise können zur Bestimmung der Datierung, der Funktion oder des ursprünglichen Aussehens eines alten Kunstwerks beitragen.
Alte Objekte unter neuer Betrachtung
Die Röntgenaufnahme ist ein gutes Beispiel dafür, dass naturwissenschaftliche Methoden das bessere Verständnis eines Kunstwerks ermöglichen können. Der Kopf gehört einer der acht Prophetenfiguren, die um 1430/40 für die sogenannte Prophetenkammer im historischen Kölner Rathaus geschaffen wurden. Im Laufe der Jahrhunderte haben die Propheten ihren Standort und auch ihr Aussehen mehrmals geändert.
Das Figurenensemble der Rathauspropheten wurde 2013 – 2014 einer kunsttechnologischen Untersuchung unterzogen, die anhand diverser Verfahren die Konstruktion der Skulpturen nachverfolgen und ihre chamäleonartigen Farbwechsel über die Jahrhunderte rekonstruieren konnte. Der mehrschichtige Farbauftrag, die sogenannte Fassung, wurde diverse Male überarbeitet. Das heutige Erscheinungsbild der Figuren lässt kaum noch erahnen, dass sie im 15. Jahrhundert glänzend weiße Mäntel trugen.
Im Rahmen von Renovierungsmaßnahmen im Rathaus wurden auch die Holzskulpturen in ihrem Aussehen verändert. Es gibt sogar Anzeichen dafür, dass politische Ereignisse in der Stadt Einfluss auf die Überarbeitungen der Propheten hatten. So erzählen auch die Materialien und die Arbeiten an dem Objekt selbst eine eigene Geschichte.
I. Salto Santamaría