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Bild der 46. Woche - 13. November bis 19. November 2017
In ihrem Essay „Das Schweigen der Machtlosen“ („Can the Subaltern Speak?“ ) wirft die Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivaks Essay die Frage auf, ob Verallgemeinerungen wie „Der Arbeiter“ oder "die Frau" zulässig sind. Existiert „der Arbeiter“ überhaupt? Oder ist er nicht einfach eine Projektionsfläche westlicher Diskussionen, wie sie beispielsweise Gilles Deleuze oder Michel Foucault geführt haben?
Die indisch-amerikanische Wissenschaftlerin ärgerte sich über die Haltung linker Intellektueller, die ihre eigene Bedeutungslosigkeit beteuern und die subversive Energie unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen beschwören. Daher fragt sie sich, ob Menschen, die keine Stimme haben, überhaupt sprechen können. Diese Diskussion, die seit 1985 immer wieder die Gemüter erhitzt, findet in den Künsten eine Entsprechung. Mit der Oktoberrevolution vor nunmehr 100 Jahren fand eine völlig neue Bildsprache ihren Raum, die mit Begriffen wie "der Soldat" oder der Arbeiter" operierte.
Die Realität des „Arbeiters“ im sozialistischen bzw. kommunistischen Sinne wird bei Abram Schterenberg durch die Technik der Photographie bezeugt. Im Gegensatz zu Zeichnungen oder malerischen Darstellungen lässt sich die Photographie viel stärker als unverfälschte Abbildung der Realität deuten. Scheinbar ohne Abweichung gibt unser Bild der Woche wieder, was tatsächlich ist - beziehungsweise war. Wenn auch davon auszugehen ist, dass die Person, die abgebildet ist, zum Zeitpunkt der Aufnahme auch tatsächlich so aussah, ist es insbesondere die Aufnahmetechnik, die die Realitätswahrnehmung verstärkt.
Schterenberg führt uns ganz nah an den Menschen heran, dessen Gesicht das Bild vollständig füllt. So wie wir Dinge, die wir verstehen wollen, ganz genau ansehen, scheint die Photographie uns zu suggerieren, dass wir auch den Arbeiter verstehen können, wenn wir uns nur nah genau herantrauen: anhand seines Gesichts nämlich, das für uns die Unterscheidbarkeit des Individuums von der Masse ausmacht. Die glänzende Haut wirkt wie Leder. Die tiefen Falten, die Poren und Unebenheiten stehen für harte Arbeit.
Dabei wird der Arbeiter in der Überlieferung jedoch als wenig mehr denn ein Stereotyp gezeigt, ein Stellvertreter. Egal wie nah die Kamera an das Gesicht herangeführt wird, egal wie stark die Vergrößerung ist, der Arbeiter bleibt unbekannt und unerkannt. Wir wissen nichts über sein Leben, seine Familie, seine Herkunft, seine Interessen, seine Gefühle, seine Gedanken, sein Weltverständnis. Entsprechend – und mit Unterstützung durch den Titel – leiten wir solche Überlegungen vom Sichtbaren ausgehend ab.
Nicht zuletzt geschieht hier eine Idealisierung oder Romantisierung des „Arbeiters“. Das Gesicht hat eine besondere Ästhetik. Der gezeigte Mensch strahlt eine gewisse Ruhe und Vertrauenswürdigkeit aus. Sein Gesicht ist symmetrisch, unbeschädigt, in einer gewissen Weise schön. Der Arbeiter hier ist ein guter, ein vertrauenswürdiger, vielleicht auch naiver Mensch.
Letztlich ist das Bild des Arbeiters nicht nur eine stereotype Darstellung, sondern weckt auch Stereotype in uns. Ohne Kontextualisierung können wir kaum umhin, zu imaginieren. In einer Verbindung aus Vorwissen und Vorstellungen entsteht dabei "der Arbeiter", wird zur greifbaren Person.
CB