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Bild der 51. Woche - 20. bis 26. Dezember 2005
Je intensiver man diese Weihnachtsdarstellung betrachtet, um so mehr überraschende und Fragen provozierende Details fallen dem Betrachter auf: Wo ist der "übliche" weihnachtliche Stall? Warum liegt das Kind auf dem Boden? Was hat es mit dem Kerkerfenster am vorderen Bildrand auf sich? Welche Person stellt der "herbeispringende" Mann mit der Kerze links im Bild dar? Was sind das für zwei Frauen am rechten Bildrand? Insgesamt macht die Komposition einen "ungeordneten" Eindruck. Dies hängt zum einen damit zusammen, daß die Architektur das Bild dominiert, jedoch nicht zentral angeordnet ist. Zum anderen trägt die übertriebene, zum Teil nicht nachvollziehbare Bewegtheit der langgestreckten Figuren (z. B. der Mann links oder der Kniende in der Bildmitte) hierzu bei. Einen "Unruhe stiftenden" Einfluß hat auch der kleinteilige Fliesenboden, auf dem sich das zentrale Geschehen abspielt. Nach heutigen Erkenntnissen ist dieses Werk eines unbekannten Malers der Werkgruppe der sogenannten "Antwerpener Manieristen" zuzuordnen. Diese Gruppe von Gemälden wird durch reich verzierte Architekturen, überlängte Figuren und die bereits beschriebene, starke, teilweise unmotivierte Bewegtheit der Figuren charakterisiert. Im Gegensatz zu den anderen Werken dieser Gruppe besitzt unser Bild eine Datierung: Auf der Vorderseite des linken Pfeilers findet sich die Zahl 1516. Wie sind nun die einzelnen Szenen zu deuten bzw. die oben gestellten Fragen zu beantworten? Zunächst zur Hauptszene: Maria kniet anbetend vor dem Kind, welches nackt auf ihrem Mantel liegt und nicht in einer Krippe. Hinter dieser Darstellungsweise verbirgt sich die seit dem 15. Jahrhundert weit verbreitete Vision der Hl. Birgitta von Schweden (1302/3–1373). Sie sah das Kind vor Maria auf dem Boden liegen und ein starkes Licht von diesem ausgehen. Theologisch wird so betont, daß es sich bei dem Kind um den Heilsbringer, um den Erlöser handelt. über Joseph schrieb Birgitta: „Bei ihr befand sich ein gar ehrbarer Greis [...]. Als sie in die Höhle eingetreten waren, band der Greis den Ochsen und den Esel an die Krippe, ging hinaus und brachte der Jungfrau eine angezündete Kerze, befestigte dieselbe an der Wand und ging wieder hinaus, um nicht persönlich bei der Niederkunft gegenwärtig zu sein.“ Auch die Darstellung der beiden Frauen rechts geht auf eine außerbiblische Quelle zurück. Hierbei handelt es sich um zwei Hebammen, nach denen Joseph geschickt hatte. Sie kommen jedoch zu spät und können - dem Protoevangelium des Jakobus nach - nur noch (ihrer mittelalterlichen Aufgabe folgend) die unversehrte Jungfräulichkeit Mariens feststellen. Es wundert nicht, daß auch die Darstellung des "Kerkerfensters" am unteren Bildrand auf eine außerbiblische Quelle zurückgeht, auf die Schrift des Protomatthäus. Diese berichtet, daß Christus in einer Höhle geboren wurde und Maria erst am dritten Tag mit dem Kind diesen dunklen Ort verließ. In diesem Sinne ist die Höhle als Symbol der Auferstehung zu sehen, als Hinweis auf den Sieg über den Tod, der die Menschheit gefangen (!) hielt. Die Bühne dieser Weihnachtsdarstellung wird von der Ruine eines ehemals prächtigen Baues gebildet. Auch diese Darstellung geht nicht auf biblische Schilderung zurück, sondern auf eine spätmittelalterliche Auffassung. Betlehem, die Geburtsstadt Jesu, ist zugleich die "Stadt Davids". König David – so nahm man an – lebte eben dort in einem königlichen Palast. Dessen Ruinen sind es, die hier dargestellt sind, und diese deuten daraufhin, daß der "Alttestamentliche Bund" Gottes mit den Menschen nun nicht mehr gültig ist.
T. Nagel