Bild der 33. Woche - 11. bis 17. August 1997
Im Jahre 1911 verließ Ernst Ludwig Kirchner Dresden, wo er 1905 die expressionistische Künstlergruppe "Die Brücke" mitbegründete, und zog in die dynamische Metropole Berlin. Waren seine Gemälde der Dresdner Zeit noch unter dem Eindruck der französischen Fauvisten von großen Flächenformen und leuchtenden Komplementärfarben geprägt, so wandelt sich seine Malerei unter dem Eindruck des brodelnden und hektischen Großstadtlebens hin zu einer gebrochenen bis giftigen Farbigkeit. Die Formen und Gestalten werden deutlich spitzer und hagerer, der Pinselduktus wirkt impulsiver und nervöser. Diese erhebliche stilistische Wandlung ist aber nicht allein Folge neuer, großstädtischer Eindrücke und emotionaler Reaktionen, sondern sie läßt sich auch auf Kirchners Begegnung mit der in Berlin ausgestellten neuartigen Kunst der französischen Kubisten und der italienischen Futuristen zurückführen. Die malerisch in kubische Formen zerlegten Sujets der Kubisten sind vorwiegend in gebrochener Tonalität erfaßt, hingegen lösten die Futuristen in ihren farbigen Gemälden die Figuren und Dinge in vielfältige Bewegungsphasen auf, um der Dynamik der modernen Großstadt zu huldigen. Dem hypersensibel veranlagten Ernst Ludwig Kirchner waren dies höchstwillkommene neue gestalterische Mittel, um spezifische Aspekte des großstädtischen Lebens expressiv zu schildern. Dazu gehören insbesondere seine berühmten Straßenbilder mit den mondän bis dämonisch wirkenden Kokotten. In dem ersten Gemälde dieser Reihe, den "Fünf Frauen auf der Straße" von 1913, präsentieren sie sich wie eitle, violett-dunkle Vögel im giftgrünen Licht des Boulevards, schauen nach vorbeifahrenden Automobilen und in die beleuchteten Schaufenster. Als Kirchner mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs Berlin verließ und 1917 in die schweizer Berglandschaft von Davos zog, wandelte sich sein Malstil bald wieder zu ruhigeren Flächen und vitaler Farbigkeit.
G. Kolberg