Bild der 27. Woche - 30. Juni bis 6. Juli 1997
Nicht nur im Roman von Oscar Wilde das Bildnis des Dorian Gray altert ein Kunstwerk sichtbar, sondern auch im Museum Ludwig. Dies hat nichts mit übersinnlichen Kräften zu tun, es war vom Künstler so gewollt. Der hyperrealistischen Skulptur von Duane Hanson Frau mit Umhängetasche von 1977 wird ihre häufige Verwechslung mit einer Museumsbesucherin zum Verhängnis. Durch ihre sockelfreie, ungeschützte Präsentation hält man sie für einen Menschen aus Fleisch und Blut, der bei Gefahr oder Gedränge reagieren, und wenn nötig, ausweichen kann. Ihre ursprünglich jugendliches Aussehen (Detail links) dauerte nur bis April 1977. Vermutlich wurde sie angerempelt und beim Sturz ein abgebrochener Arm stark beschädigt. Nur durch den Künstler konnte die Skulptur restauriert werden. Dieser nahm die Gelegenheit wahr, das Gesicht seines Geschöpfes altern zu lassen (Detail Mitte) - wie im richtigen Leben! Die vorher makellose Haut war fleckig, sie hatte eine rote Nase und die Haare waren struppig zerzaust. Der Schmelz der Jugend war vergangen, die Frau wirkte ungepflegt und vernachlässigt. Nach einer erneuten Kollision mit einem Besucher in der Galerie im Juli 1990 legte der Künstler wieder Hand an und ließ die Skulptur zum zweiten Mal altern (Detail rechts). Die Gesichtszüge wurden schlaffer, die Haut sah müde aus, feine Falten umspielten Augen, Nase und Mund, die Haare wurden grau. Aber im Ganzen machte sie wieder einen gepflegteren, seriösen Eindruck. Lediglich die legere Freizeitkleidung blieb die gleiche. Durch diese physischen Veränderungen hat die Skulptur eine Biographie bekommen. Aber nun hat ihr Alterungsprozess ein Ende. Mit dem Tod von Duane Hanson im Jahre 1996 bleibt das Kunstwerk unverändert.
I. Kolb