»Eine lustige Geschichte« ist dieses Foto eines Heimnachmittags in der Fähnlein-Chronik betitelt. In der Mitte liest Fähnleinführer Hans Torkler eine Geschichte vor. © NS-DOK, Köln
Entstehung und Geschichte des Fähnleins »York« aus dem linksrheinischen Kölner Norden war in vielerlei Hinsicht typisch für die Entwicklung der Hitlerjugend. Nachdem im November 1932 das Fähnlein »Roland« gegründet worden war, setzte seit Februar 1933 ein schneller Zuwachs an Mitgliedern ein. Der machte im Juli des Jahres eine erste, im April 1934 eine weitere Teilung notwendig.
Hieraus entstand das nach dem preußischen General Ludwig von York benannte Fähnlein 1 im Jungbann 53. Im Mai 1934 übernahm der 16-jährige Hans Torkler das Fähnlein, um es mit einer kurzen Unterbrechung bis 1940 zu führen. Er legte eine umfangreiche Chronik über das Fähnlein an.
Hans Torkler legte mit viel Akribie eine reich bebilderte Chronik seines Fähnleins an. Darin zeichnete er dessen Entwicklung und besondere Ereignisse, aber auch den »Dienst«-Alltag nach. Diese Selbstdarstellung geschah in idealisierender und propagandistischer Absicht. Propaganda war ohnehin ein Kernbegriff im Selbstverständnis des Fähnleins und seines Führers. Elternabende, Ausstellungen, Auftritte bei der NS-Frauenschaft und weitere werbewirksame Maßnahmen sollten dazu beitragen, den Zuspruch zum Jungvolk zu steigern und Eltern animieren, ihren Kindern den Eintritt in die Hitlerjugend zu erlauben.
Stammführer Cramer während einer Wochenendschulung des Jungstamms I/53 in Kappellensüng, November 1935 © NS-DOK, Köln
Innerhalb des Jungstamms und der Fähnlein war es wegen des schnellen Mitgliederzuwachses ein dringendes Erfordernis, geeignete Führer zu finden und diese auf ihre Aufgaben vorzubereiten. Daher fanden immer wieder Führerschulungen statt, die sich wegen knapper Freizeit zumeist jedoch auf anderthalb Tage an Wochenenden beschränken mussten.
Durch Schulungen sollten die Fähnlein- und vor allem die hierfür verantwortlichen Jungzugführer in die Lage versetzt werden, einen halbwegs interessanten und auch ordnungsgemäßen »Dienst« durchführen zu können. Hierzu zählte neben dem Heimnachmittag am Mittwoch insbesondere das samstägliche »Antreten«.
Bei dieser Gelegenheit wurde, wohl nicht immer zur Freude der »Pimpfe«, exerziert, aber auch gespielt und gerauft. Das galt ganz besonders für die oft sehr rüden »Geländespiele «. So veranstaltete das Fähnlein »York« am 30. November 1935 sein erstes »Stadtgeländespiel«.
Die wohl attraktivsten Elemente des Jungvolklebens waren für die meisten »Pimpfe« die Fahrten und Lager. Auch beim Fähnlein »York« waren solche Angebote beliebt und nehmen in der Chronik entsprechend breiten Raum ein. »Jungbannzeltlager« und »Pfingstlager« im Jahr 1935, eine einwöchige »Pfingstfahrt« mit dem Fahrrad oder ein Zeltlager in Bilstein im Jahr darauf galten als Höhepunkte im Jahresverlauf.
Ob es den »Pimpfen« auch gefiel, dass seit 1937/38 Führerschulung und Fahrtenwesen engmiteinander verknüpft wurden, wird in der Chronik nicht mit geteilt. Fotos und Berichte von reinen Zeltlagern liegen ab diesem Zeitpunkt jedenfalls keine mehr vor. Dagegen traten Jungstamm und Fähnlein als Organisations- und Ausbildungeinheiten stärker in den Vordergrund. Der »Dienst« wurde zum klar dominierenden Element im Fähnlein »York«.
»Die Hitlerjugend hat das alleinige Recht, Staatsjugend zu sein«, stellte im Juni 1933 ein HJ-Bannführer fest. Daher dürfe man sich nicht wundern, »wenn andere keine Berücksichtigung mehr finden und wenn die Symbole der bündisch und reaktionär Gesinnten vernichtet würden«.
Stattdessen wollte die Hitlerjugend die »Guten« sammeln, um aus ihnen die »große Jugendbewegung« unter alleiniger Kontrolle der Hitlerjugend zu formen.
Nach der Machtübernahme wollte die Hitlerjugend alle »arischen und erbgesunden« Jugendlichen erfassen. Daher verstärkte sie nicht nur ihre Werbetätigkeit, sondern übte zunehmend Druck auf Eltern, Schulen und die Mitglieder konkurrierender Jugendverbände aus.
Zunächst wurden sozialistische Jugendorganisationen verboten und jüdische in die Isolation gedrängt. Parallel zu den Auflösungen und Verboten anderer Parteien und Verbände wurden auch deren Jugendorganisationen durch die NSDAP beseitigt oder in die Hitlerjugend »eingegliedert «.
Die Jugendabteilungen konservativ-nationaler Kampforganisationen wie die Stahlhelmjugend oder der Scharnhorst- Bund gingen in der Hitlerjugend auf. Auch NS- Verbände wie die »Deutsche Arbeitsfront« traten ihre Jugendabteilungen an sie ab.
Mit Auflösung und Eingliederung bündischer und konfessioneller Gruppen tat sich die Hitlerjugend schwer. Viele versuchten zunächst, sich deren Absolutheitsanspruch zu entziehen. Freie Jugendbünde etwa schlossen sich zum Schutz vor drohender Auflösung im März 1933 zum »Großdeutschen Bund« zusammen, um eine Vereinnahmung durch die Hitlerjugend zu unterlaufen.
Als Baldur von Schirach am 17. Juni 1933 zum »Jugendführer des Deutschen Reiches« berufen worden war, löste er den Bund noch am gleichen Tage auf. Die »Eigenbrötelei der deutschen Jugend« müsse überwunden werden. Das gleiche Schicksal ereilte in schneller Folge alle anderen freien Bünde.
Viele waren bereits vor dem drohenden Verbot in die Hitlerjugend gewechselt, von der sie sich die seit langem ersehnte Einigung der gesamten deutschen Jugendbünde erhofften.
Die Bannfahnen der HJ beim Gauparteitag in Essen, 1935 © NS-DOK, Köln
Feiern wurden in der Hitlerjugend ein hoher Stellenwert beigemessen. Mit Fahnen, Liedern, Reden und rituellen Handlungen inszeniert, sollten Jugendliche so ideologisch beeinflusst und emotional an den Nationalsozialismus gebunden werden.
Insbesondere Fahnen prägten als zentrales Symbol der NS-Zeit den Alltag der Hitlerjugend. Sie waren immer präsent: Beim Marschieren wurden sie vorweg getragen, in Lagern feierlich gehisst und bei
Großveranstaltungen präsentiert. Bei Aufnahmefeiern in die Hitlerjugend kam ihnen sogar ein sakraler Charakter zu: »Pimpfe« und »Jungmädel« legten ihr Treueversprechen auf die Fahne ab. So sollten Jugendliche zu »politischen Soldaten« erzogen werden. »Wer in der HJ marschiert, ist Soldat einer Idee« hieß die offizielle Losung. Das Soldatische wurde fester Bestandteil in der Inszenierung von Feiern der Hitlerjugend.
Als jährliche Höhepunkte sollten die Reichsparteitage Pracht und Macht der NSDAP in gigantischen Inszenierungen erfahrbar machen. Hieran galt es die Jugend besonders zu beteiligen.
Seit 1935 wurde der »Adolf Hitler-Marsch der HJ« durchgeführt. In einem mehrwöchigen Sternmarsch trugen 2.000 ausgewählte HJ-Mitglieder sämtliche Bannfahnen aus dem Reichsgebiet nach Nürnberg.
Dieser Marsch wurde ebenso als nahezu religiöser Akt inszeniert wie Sonnenwendfeiern oder Fackelzüge zum Heldengedenktag. Ergänzt um pathetische NS-Lieder übten sie eine große Faszination aus. Gerade Jugendliche mit Sinn für Romantik und Abenteuer fühlten sich hiervon angesprochen.
Auch ohne das Vorgehen gegen alle konkurrierenden Jugendorganisationen wäre es der Hitlerjugend wohl schnell gelungen, viele Jugendliche an sich zu binden.
Während alle anderen Gruppen nun zunehmend Probleme hatten, weiterhin Nachwuchs zu rekrutieren, warb die Hitlerjugend für Ziele, die auch in der Jugendbewegung anerkannt waren: Für eine Erziehung zur soldatischen Haltung und für die »Volksgemeinschaft «.
Ergänzt wurde die Werbung um attraktive Angebote. Zeltlager und Fahrt, Sport und Großereignisse wurden zu festen Elementen in der Arbeit der Hitlerjugend. Dabei wollten viele Gleichaltrige mitmachen und merkten oft nicht, in welchem Maße sie politisch beeinfl usst wurden.
Jugendkundgebung im Rahmen des NSDAP-Gautages auf dem Adolf-Hitler-Platz in Essen, 4. August 1935. Zu diesem Anlass erklärte Propagandaminister Joseph Goebbels: »Die Jugend gehört uns, und wir geben sie an niemand ab.« © NS-DOK, Köln
Neben jene, die schon vor 1933 organisiert waren, traten nun zahlreiche Mädchen und Jungen in die Hitlerjugend ein, die zuvor noch keiner Gruppe angehört hatten.
Sie sahen sich als Teil einer großen »Bewegung«, fühlten sich wichtig und ernstgenommen. Außerdem wurden ihnen hier Freizeitangebote unterbreitet, die andernorts nicht mehr gemacht werden konnten. Denn die Hitlerjugend beanspruchte auch die staatliche Förderung für sich allein.
Außerdem bot eine Mitarbeit in der Hitlerjugend vielen Mädchen und Jungen erstmals die Möglichkeit, sich aus elterlicher und kirchlicher Aufsicht zu lösen.
Sämtliche Aktivitäten der Hitlerjugend folgten in ihrer Zielsetzung den Vorgaben der NS-Ideologie. Dabei war es die »Volksgemeinschaft«, die den Jugendlichen als Modell einer neuen Gesellschaftsordnung angeboten wurde. Nicht Konfession oder sozialer Stand sollten mehr bestimmend sein, sondern die Zugehörigkeit zu Nation und »Rasse«.
Die Praxis sah völlig anders aus, denn die beklagten Unterschiede wurden auch in der Hitlerjugend keinesfalls beseitigt. Vielmehr kamen neue Ungleichheiten hinzu. Sie ergaben sich als Folge eines strengen hierarchischen Aufbaus und einer massiven Ausgrenzung.
Wie auf der Grundlage der NS-Rassenideologie ganze Gruppen aus der »Volksgemeinschaft« ausgeschlossen wurden, konnte auch nicht jedes Mädchen und jeder Junge Mitglied in der Hitlerjugend werden. Insbesondere jüdischen Jugendlichen wurde der Zugang völlig verwehrt.
In der Hitlerjugend stand der »Dienst« im Zentrum allen Tuns. Er sollte ihre Mitglieder durch permanente politische Schulung »zu echten, starken Nationalsozialisten« heranbilden und sie körperlich »zu Kraft, Ausdauer und Härte« erziehen.
»Diese Jugend soll gehorchen lernen und Disziplin üben« hieß es unmissverständlich im »Organisationsbuch der NSDAP«. Durch solche »Erziehungsarbeit« solle »die Grund lage zu wahrem Führertum gelegt werden«.
Hierzu wurden die Jugendlichen in ein starres Schema von Forderungen gepresst, nach dessen Vorgaben sie körperlich trainiert und politisch indoktriniert wurden. Das geschah im Rahmen des »Dienstes«, der mindestens zweimal pro Woche stattfand: als Heimabend am Mittwoch und als »Antreten« am Samstag.
Ein zentraler Bestandteil des »Dienstes« war die weltanschauliche Schulung: Jugendliche wurden hier unter anderem syste matisch »rassenpolitisch« indoktriniert.
Dafür gab die Reichsjugendführung Schulungsmaterialien heraus. Sie sollten die Mädchen und Jungen von der angeblichen Notwendigkeit der rassistischen Vorgaben des Regimes überzeugen.
Die Inhalte des »Dienstes« wurden ständig geprüft und deren Kenntnis zur Voraussetzung des persönlichen Aufstiegs gemacht. Das begann mit der »Pimpfenprobe« bzw. der »Jungmädelprobe«, die abgelegt werden musste, um vollwertiges Mitglied in der Hitlerjugend zu werden. Danach wurde das Ablegen immer neuer sportlicher und weltanschaulicher Leistungsprüfungen erwartet.
Mit solchen Karikaturen in der HJ-Zeitschrift »Niederrheinische Fanfare« machte die Reichsjugendführung deutlich, welche Gruppen und welche Verhaltensweisen sie bekämpfte. Niederrheinische Fanfare 1939, Heft 3, 4 und 11
Seit 1933 wurde der Jugendbereich durch Verbote, Kontrollen und Verfolgung geprägt. Sämtliche Gruppen und Verhaltensweisen, die sich ein gewisses Maß an Selbstständigkeit erhalten wollten, wurden bekämpft, verboten und so kriminalisiert.
Die Arbeiterjugendbewegung wurde unmittelbar nach der NS-Machtübernahme aufgelöst. Es folgten die bündischen und konfessionellen Verbände und schließlich die provokativ auftretenden Gruppen unangepasster Jugendlicher.
Zur Bekämpfung all dieser Gruppierungen schuf die Reichsjugendführung ein umfassendes Überwachungs- und Kontrollsystem. So sollte unter Einschaltung von Polizei und Justiz jedes unerwünschte Verhalten unterbunden werden.
Transparent vor einem Hakenkreuz beflaggten Haus in Opladen März 1935 © Historisches Archiv des Erzbistums Köln
Die Jugendlichen reagierten unterschiedlich. Viele ließen sich von der Hitlerjugend beeindrucken. Andere passten sich zur Sicherung von Schulabschluss oder Ausbildungsplatz notgedrungen an, ohne jedoch die HJ-Ziele aktiv zu unterstützen.
Ein kleiner Teil der Heranwachsenden blieb aber resistent und weigerte sich trotz allen Drucks, den Vorgaben Folge zu leisten. Weil sie den von der NS-Ideologie propagierten Vorbildern nicht nacheiferten, wurden zu Feinden der »Volksgemeinschaft« erklärt, verunglimpft und benachteiligt.
Die Zahl dieser »Verweigerer« ist ebenso schwer einzuschätzen wie ihre sehr unterschiedlichen Motive. Sie brachten erheblichen Mut auf und nahmen Nachteile in Kauf, um sich ihre Einstellung oder ihren Glauben bewahren zu können.
Unmittelbar nach der Machtübernahme forderte die Hitlerjugend die Arbeitgeber dazu auf, die Vergabe von Lehrstellen und Neueinstellungen von der Mitgliedschaft in der Hitlerjugend abhängig zu machen.
Obwohl hierfür keine rechtliche Grundlage existierte, gaben viele Firmen solchen Forderungen nach. Einige taten das aus politischer Überzeugung, viele andere, weil sie wirtschaftliche Nachteile befürchteten.
Für Jugendliche, die sich weiterhin weigerten, der Hitlerjugend beizutreten, wurde es immer schwerer, einen Ausbildungsplatz zu finden. Daher beugten sich viele dem Druck oder wurden von ihren besorgten Eltern dazu angehalten.
Fotograf unbekannt © LWL-Medienzentrum für Westfalen
Einige Beispiele von ungezählten:
Oktober 1933: Die Farbenfabrik in Leverkusen
beschäftigt nur noch BDM-Mitglieder
November 1933: Die Bonner Friseur-Innung
verpflichtet ihre Mitglieder zum HJ-Beitritt
Januar 1934: Das Bonner Arbeitsamt vermittelt
bevorzugt Stellen an HJ-Mitglieder
Februar 1934: Die Reichsbahndirektion Köln
gibt an, nur noch HJ-Angehörige aufzunehmen
Mai 1934: Die Handwerksinnung, die Führer
des Einzelhandels und der Direktor der Berufsschule
in Bonn einigen sich, nur noch Lehrlinge
aufzunehmen, die in der HJ sind
April 1935: Die Colonia-Versicherung in Köln
und die Schuhfabrik in Tenholt stellen nur noch
HJ-Mitglieder ein
April 1935: Die Berlin-Anhaltinische Maschinen
AG in Köln nehmen nur Lehrlinge auf, die
HJ-Mitglied sind
Juni 1935: Der Industrieverband des Kreises
Jülich vergibt Lehrstellen nur an HJ-Mitglieder
Ein wichtiges Instrument der – zunächst internen – Kontrolle war der Mitte 1933 ins Leben gerufene HJ-Streifendienst. Seit August 1937 zeichnete diese HJ-Sonderformation für Überwachung und Bekämpfung aller »politischen und kriminellen Vorgänge innerhalb der deutschen Jugend« zuständig. Ab Herbst 1938 galt sie offi ziell als Nachwuchsorganisation der SS.
Der Streifendienst überwachte Wanderwege, Jugendherbergen und Plätze, die von Jugendlichen aufgesucht wurden. Wer mit verbotenen Fahnen, in »Kluft« oder in großen Gruppen angetroffen wurde, musste mit Sanktionen rechnen.
Jegliche Freizeitbeschäftigung außerhalb der Hitlerjugend wurde so erschwert und sanktioniert.
Im Februar 1935 ordnete die Geheime Staatspolizei als »wichtige staatspolitische Aufgabe« die »ständige Beobachtung « der deutschen Jugend an: Systematische Erfassung aller Jugendlichen, die sich weiterhin außerhalb der Hitlerjugend bewegten. So sollten deren Gruppen kontrolliert und nachhaltig zerschlagen werden. Wer nun gemeinsam mit anderen Jugendlichen in verbotener Kluft aufgegriffen wurde, konnte mit oft fadenscheinigen Gründen verhaftet, vor Gericht gestellt und zu empfindlichen Strafen verurteilt werden.