Dieses Kriegsplakat symbolisiert das Ziel allen HJ-Dienstes:
Die Vorbereitung auf den fast religiös überhöhten Krieg.
© Privat
Rechts: Plakat der Hitlerjugend, um 1943/44 © Stadtarchiv Bonn
Der Kriegsbeginn bedeutete einen tiefen Einschnitt in die Arbeit der Hitlerjugend. Innerhalb kürzester Zeit verlor sie einen Großteil ihres Führerkorps. Allein in der Reichsjugendführung wurden 273 der insgesamt 424 Mitarbeiter direkt zur Wehrmacht eingezogen. 467 der 1.100 Bann- und Jungbannführer meldeten sich freiwillig zur Wehrmacht, das galt auch für den Großteil der über 18-jährigen ehrenamtlichen HJ-Führer.
An ihre Stelle traten jüngere, unerfahrene und unzureichend ausgebildete Führer. Das hatte negative Auswirkungen auf den »Dienst«, der nun immer eintöniger wurde. Außerdem standen nicht mehr Fahrt und Lager auf dem Dienstplan, sondern Sammlungen und immer neue »Kriegshilfsdienste«. Die gesamte Hitlerjugend befand sich im permanenten »Kriegseinsatz«.
Flaschensammlung von Jungvolk-Mitgliedern der Volksschule Bochold II in Essen, November 1941 © Stadtarchiv Essen, 200-26-007
Die gesamte Kriegszeit über herrschte großer Mangel an Rohstoffen und Devisen. Daher versuchte das NS-Regime, möglichst viele Materialien durch systematische Sammlungen für den Produktionskreislauf zu erhalten. Hierbei spielten Hitlerjugend und Schulen eine wichtige Rolle.
Das komplette Wirtschaftsleben wurde der Rüstungsindustrie untergeordnet, wodurch zahlreiche Engpässe in der Versorgung der Zivilbevölkerung entstanden. Auch hier sollte die Hitlerjugend Abhilfe schaffen und so zur Stimmungsaufbesserung an der »Heimat front« beitragen.
Im Februar 1940 stellte der »Reichskommissar für die Altmaterialverwertung « das Sammelsystem auf eine neue Grundlage. Es gab künftig »Hausvorsammelstellen«, die regelmäßig vom Jungvolk entleert wurden. Zugleich wurden »Schulsammelstellen« eingerichtet, deren Betreuung den jeweiligen Schulleitungen oblag.
Zu sammeln war nahezu alles: Papier, alte Kleidung und Stoffreste, Altmetall, Flaschen, Korken, Folien und Tuben sowie Knochen. In der NSPresse wurden diese Zwangsmaßnahmen zu einem »freudigen« Einsatz der Jugendlichen propagandistisch umgedeutet. So schrieb das »Rheinische Volksblatt«:
»Mit freudigem Herzen marschierten die Hitlerjungen Samstagnachmittag zu den ihnen zugewiesenen Blocks, wo sie unter Anleitung der Blockleiter das schon bereitgestellte Altmaterial abholten und auf die Lastwagen luden. Mit Eifer waren die Jungen bei der Sache, galt es doch, auf diese Weise ihren Beitrag zum deutschen Siege zu leisten und der Industrie Rohstoffe zuzuführen, die sonst in irgend einer verlassenen Ecke ihr nutzloses Dasein fristen würden.«
Jungvolk, Jungmädel und Schulklassen waren für die Sammlung von Heilkräutern zuständig. Immer wieder zogen sie während des »Dienstes« oder des Unterrichts los, um verschiedene Pflanzen zu pflücken, die als Tees oder Heilmittel dienten.
Die Reichsjugendführung erstellte hierzu eine Dienstvorschrift mit »Einsatzkalender«. Der enthielt genaue Angaben darüber, wann was zu sammeln war, beispielsweise Tee und Arzneipflanzen von Mitte März bis Ende Oktober, Bucheckern und Kastanien im Oktober und November und Eicheln bis Mitte November.
Als Mitte 1941 eine neue »Großaktion« zur Sammlung von Lindenblüten anstand, hieß es in der Tagespresse: »Die HitlerJugend hat sich verpflichtet, diese Ernte einzubringen, und jeder einzelne Junge wird seine Ehre dareinsetzen, mitzuhelfen!«
Wie schon in den Jahren vor dem Krieg blieben die Sammlungen im Rahmen des »Winterhilfswerks« (WHW) ein wichtiger Bestandteil der Arbeit der Hitlerjugend. Gerade während des Krieges war jugendlicher Einsatz besonders gefragt, denn viele Sammler fi elen durch Einberufungen zur Wehrmacht und Dienstverpfl ichtungen in der Rüstungsindustrie für diese Aufgabe aus.
So zogen in den Wintermonaten vor allem die Einheiten von Jungvolk und Jungmädeln aus, um mit ihren Büchsen auf den Straßen und an Haustüren für das WHW zu sammeln.
Sowohl im Jungvolk als auch bei den Jungmädeln wurde während des Krieges in großem Umfang gebastelt. Die »Werkarbeit«, die 1943 in der Gründung des »Spielzeugwerks der HJ« gipfelte, sollte die immer deutlicher spürbar werdenden Versorgungsengpässe kaschieren. Weil alle Kräfte auf die Rüstung konzentriert wurden, blieb kein Raum mehr für die Produktion von Spielzeug für den weihnachtlichen Gabentisch.
Das Basteln wurde seitens der Reichsjugendführung 1941/42 kurzerhand zum »Pflichtdienst« erklärt und bestimmte künftig die Heimabende wesentlich mit. Allein 1943/44 wurden so rund 12 Millionen Spielzeuge hergestellt.
Beim Basteln wurden deutliche Unterschiede gemacht: Während die Mädchen vorwiegend ziviles Spielzeug wie etwa Kaufl äden angefertigten, stellten die »Pimpfe« Modelle von Flugzeugen oder Schiffen her.
Im März 1940 umriss der Reichsjugendführer in einem Erlass »über die praktische Durchführung der Jugenddienstpflicht« die Bedeutung künftiger »Kriegshilfsdienste« der Hitlerjugend. Zu deren Pflichten gehörten neben dem normalen Dienst nun auch kriegsbedingte »Sondereinsatzmaßnahmen«, die weit über das Sammeln von Altmaterial oder das Basteln von Spielzeug hinausgingen.
Jungen und Mädchen konnten für die Dauer des Krieges in all jenen Bereichen eingesetzt werden, in denen durch Einberufungen zur Wehrmacht Lücken entstanden waren. Land- und Ernteeinsätze prägten nun die Sommerferien. Mädchen halfen in fremden Haushalten, betreuten Kinder, flickten Kleidung oder packten Feldpostpäckchen für die Wehrmacht. Hinzu kam die »kulturelle Betreuung« der Soldaten in den Kasernen und im Laufe der Zeit immer stärker in den Lazaretten.
Bereits im August 1939 gab die Reichsjugendführung eine erste Anordnung zu »Aufgaben und Einsatz der HJ im Kriege« heraus. Am 1. April 1940 legte sie in der Arbeitsrichtlinie 7/40 den »Kriegseinsatz der Hitler-Jugend« fest: »Jungen und Mädel der Hitler-Jugend! Während Eure Väter und Brüder die von unserem Führer Adolf Hitler geschmiedeten Waffen gegen den Feind unserer Einheit und unseres Glücks führen, wollen wir in der Heimat durch Gesinnung und Einsatz beweisen, dass wir der Zeit würdig sind.«
Alle 10- bis 18-Jährigen hatten künftig überall dort ihre »Pflicht« zu tun, wo Arbeitskräfte fehlten. Das galt ausdrücklich nicht nur für Angehörige der Hitlerjugend. Deren lokale Führerschaft wurde vielmehr ermächtigt, auch die nicht der Hitlerjugend angehörenden Jugendlichen zu Kriegshilfsdiensten heranzuziehen.
Ab Sommer 1940 mussten Schüler ab 14 Jahren in ihren Ferien drei Wochen lang als Erntehelfer arbeiten. Die Schüler hatten nach Ferienende in ihrer Schule eine entsprechende Teilnahmebestätigung vorzulegen. Seit 1941 wurde dieser Einsatz sogar auf dem Zeugnis vermerkt. Damit erreichte man zweierlei: Die Heranwachsenden wurden kontrolliert, und sie standen in den Erntehelfer-Lagern außerdem unter dem Einfluss der Hitlerjugend.
Nahezu 1,1 Millionen Jugendliche leisteten im »Jahr der Bewährung« 1940 nach offiziellen Angaben Kriegshilfsdienste. 1942 waren bereits 2 Millionen allein im Ernteeinsatz tätig.
Christa Hurlbrink als Schaffnerin der Bielefelder Straßenbahn im Rahmen des Kriegshilfsdienstes, 1943/44 © NS-DOK, Köln
Seit 1941 unterlag die Gestaltung der Schulferien einer strengen »Ordnung«. Kurz vor Beginn der Sommerferien legte der Reichserziehungsminister eine »Ferienordnung« für die weibliche Jugend fest. Zur Begründung hieß es, die Mädchen seien »selbst noch gar nicht in der Lage«, die Ferien »vernünftig« zu nutzen und würden die Zeit mit »schrankenlosem Nichtstun« gleichsetzen.
Das aber war im Krieg nicht zulässig. Schülerinnen wurden nun zur Fabrikarbeit herangezogen, um ihre »gleichaltrigen Kameradinnen« zu entlasten. Hinzu kamen Einsätze in der Landwirtschaft, in Kindergärten oder kinderreichen Familien. Als Straßenbahnschaffnerinnen wurden hingegen nur ältere Mädchen eingesetzt, die vier Wochen lang täglich vier Stunden arbeiten mussten. Den »Kriegseinsatzwochen« des BDM kam im Laufe des Krieges angesichts umfangreicher Einberufungen zur Wehrmacht zunehmende Bedeutung zu.
Anfang September 1944 befahl Reichsjugendführer Artur Axmann den »totalen Kriegseinsatz der Hitlerjugend«. Um die Jugendlichen völlig für die Front oder die Rüstungsproduktion verwenden zu können, wurden alle übrigen Aufgabengebiete eingeschränkt. Sämtliche Zeitschriften der Hitlerjugend stellten ihre Arbeit ein. Alle Haushaltsschulen, Werkschulen, Sportschulen oder Musikschulen wurden geschlossen und ihre Schülerinnen und Schüler der Rüstungsindustrie zur Verfügung gestellt.
Selbst »schwächliche und durch Krankheit behinderte Schüler(innen)« wurden nun nicht mehr ausgespart. Sie sollten »durch die zuständige Bannführung zu Kurierdiensten, Botengängen, Schreibarbeiten, Brandwachen und dergleichen Diensten« herangezogen werden.
Jungvolk-Angehörige bei Aufräumungsarbeiten nach einem Angriff auf Soest, um 1944 © Stadtarchiv Lippstadt, Bestand Nies
Mit der Intensivierung des Luftkrieges wurden die Hilfsdienste der Hitlerjugend immer stärker auf Aufgaben ausgedehnt, die eine direkte Folge von Bombenangriffen waren. Jungen wurden nun häufi, g als HJ-Melder, als notdürftig ausgebildete Feuerwehrmänner oder in Aufräumkommandos eingesetzt. Mädchen kamen eher in Einheiten zum Einsatz, die unmittelbar nach Angriffen die Versorgung der Bevölkerung sicherstellen mussten. Außerdem wurden Jugendliche bei der Bergung von Toten und Verletzten eingesetzt.
Diese permanente Konfrontation mit Angst und Tod führten seit 1942/43 zu einem sprunghaften Anstieg der psychischen Belastung Heranwachsender. Mit deren Verarbeitung wurden sie jedoch allein gelassen. Zudem mussten sie jederzeit damit rechnen, selbst ums Leben zu kommen.
Propagandafoto zum »1.000-Bomber-Angriff«: »Fleißige BDM-Hände beim Kartoffelschälen«. So gut, wie das Foto glauben machen will, verlief die Notfallversorgung keinesfalls. © NS-DOK, Köln
Mit dem »1.000BomberAngriff « auf Köln begannen am 31. Mai 1942 die Großangriffe auf deutsche Städte. Die Kölner Hitlerjugend hatte dabei zahlreiche Hilfsund Aufräumarbeiten zu leisten. Die Presse verklärte diesen Einsatz anschließend als Beweis für den »Erfolg nationalsozialistischer Erziehung« und nutzte ihn dazu, die Arbeit der Hitlerjugend propagandistisch zu überhöhen.
Die psychischen Auswirkungen, unter denen die Kinder und Jugendlichen nach den Einsätzen zu leiden hatten, wurden dabei zur Kraftprobe verklärt, die von den Jugendlichen angeblich bestens bestanden wurde: Trotz der »seelischen Belastung«, die solche Einsätze gerade für junge Menschen bedeuteten, würden sie »eine vorbildliche Haltung an den Tag« legen.
Schon im April 1939 wurden HJAngehörige ab einem Alter von 15 Jahren zur Verstärkung der regulären Feuerwehren abgestellt. Was in der Propaganda als Abenteuer und Dienst an der »Volksgemeinschaft« dargestellt wurde, war bitterer Ernst.
Über die Aufgabe der HJFeuerlöschtrupps wurde kein Zweifel gelassen. Im April 1940 berichtete die Schülerzeitschrift »Hilf mit!«: »Jeder Junge wird so ausgebildet, dass er im Ernstfalle voll einsatzbereit ist und eingesetzt werden kann.«
So standen die Jugendlichen bei oder unmittelbar nach Luftangriffen oft in erster Reihe und waren den entsprechenden Gefahren ausgesetzt.
Ein jugendlicher Helfer bei der Bergung toter Kinder nach einem Bombenangriff auf Köln, 1943 © Bundesarchiv
Im Oktober 1942 lud Propagandaminister Goebbels 31 HJAngehörige aus westdeutschen Städten nach Berlin ein. Im Beisein des Reichsjugendführers verlieh er ihnen hohe Kriegsauszeichnungen, weil sie sich bei Luftangriffen durch »besonders tapfere Haltung und Unerschrockenheit« ausgezeichnet hätten. »Dass hier 15jährige Jungen, fast möchte man sagen, noch Kinder, mit diesen ehrenvollen Auszeichnungen vor ihm stünden«, war dem Propagandaminister »eine besondere Freude«. Dass diese Kinder im Rahmen ihrer Einsätze dem Tod ins Auge geschaut und in aller Regel wohl auch psychische Schäden davongetragen hatten, blieb hingegen unerwähnt.
Solche Auszeichnungen wurden bis kurz vor Kriegsende in propagandistischer Absicht immer wieder verliehen. »Rheinische Jugend trotzt dem Terror« titelte der »Westdeutsche Beobachter« am 26. Juli 1943 anlässlich der Verleihung des »Kriegsverdienstkreuzes mit Schwertern« an Angehörige von BDM und HJ.
Mit Beginn des Krieges wurde die Wehrertüchtigung in der HJ nochmals intensiviert. Für die 16- bis 18-Jährigen wurde im Oktober 1939 eine zwölfmonatige Ausbildung im Kleinkaliberschießen und Geländedienst als Vorbereitung für den Dienst in der Wehrmacht obligatorisch.
Nun räumte auch die Reichsjugendführung unumwunden ein, dass Ziel und Endzweck der Erziehung in der Hitlerjugend »die Vorbereitung für den Krieg« sei. Dabei wurde eine wechselseitige Durchdringung von praktischer vormilitärischer Ausbildung und »wehrgeistiger Erziehung« angestrebt. Die Kombination beider Bereiche galt als »entscheidend für den Erfolg der Kriegsausbildung«.
Anfang 1941 stellte die Reichsjugendführung die Wehrertüchtigung der Hitlerjugend auf eine neue Grundlage. Das »Amt für körperliche Ertüchtigung« wurde zum »Amt Wehrertüchtigung « und für alle Formen vormilitärischer Ausbildung die übergreifende Bezeichnung »Wehrertüchtigung der Hitler-Jugend« eingeführt. Mitte August 1941 wurde die Wehrertüchtigung radikalisiert. Sie sollte nun »den ganzen Menschen in all seinen Lebensäußerungen« erfassen. Neben die praktische Vorbereitung auf den Kriegseinsatz trat die politische, weltanschauliche und kulturelle Erziehung. Ein Wehrmachtsvertreter fasste zusammen: »Kommt der Rekrut zur Truppe, so muss er bereits weltanschaulich geschult und gefestigt sein. Die Grundfragen des Nationalsozialismus müssen ihm zum inneren Erlebnis geworden sein.« Nur so sei der »Existenzkampf des deutschen Volkes« zu gewinnen.
Ziel der Wehrertüchtigungslager war es, den Jugendlichen eine bedingungslose Todesbereitschaft anzuerziehen. Gerade die Angehörigen der Hitlerjugend sollten in »unverbrüchlicher Treue« zu Hitler und mit »todesmutiger Einsatzbereitschaft an der Front ihren Mann« stehen.
Dieser Aspekt der »Politisierung der Jugend« wurde seitens der Reichsjugendführung besonders betont. Durch systematische Wehrerziehung wollte sie vermeiden, dass Jugendliche mit Blick auf ihren Fronteinsatz die »Frage des Warum?« überhaupt stellten. Jede kritische Nachfrage sollte unterbleiben. Sie müssten angesichts moderner Kriegsführung das Gefühl aushalten, »jede Minute durch eine 30-cm-Granate in Atome zerfetzt zu werden«.
Wehrertüchtigungslager in Bilstein, 1944 © Stadtarchiv Lippstadt, Bestand Nies
Mit Beginn des Krieges taten sich in der Hitlerjugend große personelle Lücken auf. Um eine ausreichende Wehrertüchtigung in den HJ-Einheiten durch Gelände- und Schießwarte zu gewährleisten, beschlossen Reichsjugendführung und Wehrmacht im Winter 1940/41 die Einrichtung von »Reichsausbildungslagern. «
Ausgewählte Jugendliche wurden dort in dreiwöchigen kasernierten Lehrgängen ausgebildet.
Danach sollte der Führernachwuchs in die HJ-Einheiten zurückkehren, um dort selbst die Wehrertüchtigung zu leiten.
Die insgesamt zehn Reichsausbildungslager konnten den Bedarf aber bei Weitem nicht decken. Hinzu kam, dass die gerade Ausgebildeten wegen ihrer Einberufungen nicht lange zur Verfügung standen. Damit erwies sich dieser Versuch auf Dauer als zu »unwirtschaftlich«.
Die Baracken des Wehrertüchtigungslagers in Mausbach bei Stollwerk, August 1942. © NS-DOK, Köln Das Lager war kurz zuvor noch als Sammellager für rheinische Juden genutzt worden, bis sie am 15. Juni 1942 von Köln nach Theresienstadt deportiert wurden. Am 18. Juni wurde das Sammellager geschlossen und zum Wehrertüchtigungslager umgerüstet. Von allem dürften die Jugendlichen allerdings nichts gewusst haben.
Wehrertüchtigungslager Braunau/ Inn, Winter 1944/45. © NS-DOK, Köln Der 15-jährige Herbert Neumann (vorne, liegend am MG) befand sich zu diesem Zeitpunkt in der Kinderlandverschickung in Österreich.
Im Oktober 1941 einigten sich Wehrmacht und Reichsjugendführung auf eine klare Kompetenzverteilung in der Wehrertüchtigung. Sie unterstand nun allein der Hitlerjugend, wurde von der Wehrmacht aber durch Ausbilder unterstützt.
Im März 1942 befahl Hitler auf Vorschlag der Reichsjugendführung die Einrichtung von »Wehrertüchtigungslagern der Hitlerjugend«. Alle Jugendlichen ab 16 Jahren mussten diese Lager durchlaufen und erhielten dort eine dreiwöchige vormilitärische Ausbildung – gleichgültig ob sie HJ-Mitglieder waren oder nicht.
Nachdem im April 1942 das erste Wehrertüchtigungslager eröffnet worden war, zählte man im November 1942 bereits 162 dieser Lager. Allein zwischen Mai 1942 und April 1943 wurden hier mehr als 245.000 Jugendliche ausgebildet. Bis zum Dezember 1943 waren 226 dieser Einrichtungen in Betrieb, in denen unter Anleitung von 3.022 Ausbildern mehr als eine halbe Million Heranwachsende auf den Kriegseinsatz vorbereitet wurden.
Die Ausweitung des Krieges bedeutete auch die räumliche Expansion des Kriegseinsatzes der Hitlerjugend. Zu den Aufgaben an der »Heimatfront« kamen Einsätze in der »Erweiterten Kinderlandverschickung « (KLV) und bei den umgesiedelten »Volksdeutschen« in den okkupierten Gebieten im Osten.
Die KLV wurde im Herbst 1940 eingeführt. Der »Osteinsatz« begann 1941. Dafür gab die Reichsjugendführung die Jahresparole »Aufbau in den neuen Gebieten« heraus, 1942 gefolgt von der Parole »Osteinsatz und Landdienst«. In all diesen Bereichen sollte die personell erheblich geschwächte Hitlerjugend umfangreiche Arbeiten übernehmen.
Angesichts der im Mai 1940 beginnenden Luftangriffe auf deutsche Städte wurde im Herbst des Jahres die »Erweiterte Kinderlandverschickung« ins Leben gerufen. Sie diente dazu, 10 bis 14-jährige Kinder aus gefährdeten Gebieten in ländlichen Regionen in Sicherheit zu bringen.
Hier wurden sie für mehrere Monate in KLV-Lagern untergebracht, die von der Hitlerjugend betrieben wurden. Während Lagerleitung und Schulunterricht den mitgereisten Lehrerinnen und Lehrern oblag, war die Hitlerjugend für die Gestaltung der übrigen Zeit zuständig. Das erweiterte deren Einfl uss auf die 10 bis 14-Jährigen ganz erheblich.
In den Lagern sollte der »Sinn für Disziplin, Pflichterfüllung und Gemeinschaftsgefühl« geweckt werden. So zeigte die KLV stets zwei Gesichter: Hier die Erholung in bombensicheren Gebieten, dort die oft massive ideologische Beeinflussung und wehrsportliche Vorbereitung durch die Hitlerjugend.
Bis zum Kriegsende durchliefen rund 850.000 Kinder und Jugendliche die KLV-Lager. Für ihre Betreuung wurden Lagermannschaftsführer bzw. Lagermädelführerinnen eingesetzt, die in aller Regel zuvor eine untere Führerstelle in Jungvolk oder Jungmädelbund eingenommen hatten. Diese Jungen und Mädchen waren nur wenig älter als die verschickten Schüler, hatten aber die Aufgabe, die unterrichtsfreie Zeit im Lager selbstständig zu organisieren und zu überwachen.
Hierauf waren sie in keiner Weise vorbereitet. Wenn es überhaupt eine Schulung gab, beschränkte sie sich auf zweiwöchige Lehrgänge in einer der eilig eingerichteten KLV-Führerschulen.
15- bis 17-jährige Jungen und Mädchen sahen sich daher mit Aufgaben konfrontiert, die sie kaum bewältigen konnten.
»Morgenfeier« im KLV-Lager Ebensee, 1941 © NS-DOK, Köln
NS-inspirierter Weihnachtsschmuck im Schlafsaal des KLV-Lagers »Milica« in Teplitz, 1943 © NS-DOK, Köln
Dem Lagerleben wurde von NSSeite eine viel größere erzieherische Bedeutung beigemessen als dem eigentlichen Schulunterricht. Hierfür gab es verbindliche An weisungen. »Tagespläne« strukturierten den Alltag, der von Fahnenappellen, Stuben- und Arbeitsdiensten, Singstunden, politischem Unterricht, Sport und Geländespielen, Heimnachmittagen und Feiern geprägt war. Die gesamte Durchführung lag in der Verantwortung der Lagermannschaftsführer. Für Freizeit im individuellen Sinne war lediglich der Samstagnachmittag vorgesehen.
Alles wurde durch regelmäßige Kontrollen überwacht. »Appell« wurde zu einem Kernbegriff des KLV-Lageralltags. Ob Zimmer, Spinde, Kleidung oder Gesundheit: Sämtliche Bereiche wurden unter Zugrundelegung militärischer Normen genau inspiziert.
Hinzu kamen der »Politische Wochenbericht«, Heimnachmittage und Feiern, die allesamt in der Verantwortung der Lagermannschaftsführer lagen. Dadurch waren die Kinder einer massiven ideologischen Beeinflussung ausgesetzt.
Der »BDM-Osteinsatz « stellte eine besondere Aufgabe dar. BDM-Angehörige wurden in den okkupierten Gebieten Osteuropas eingesetzt, um hier rund 900.000 neu angesiedelte »Volksdeutsche« zu betreuen. Ziel war es, dort eine »rassisch reine« Siedlerstruktur zu schaffen. Dass dem die Enteignung, Vertreibung und Ermordung der ursprünglich ansässigen Bevölkerung vorausgegangen war, blendete der BDM völlig aus.
Bei den »Volksdeutschen« handelte es sich vielfach um Menschen, denen abgesehen von familiären Wurzeln häufi g jegliche Verbindung zu Deutschland fehlte. Sie beherrschten nicht einmal die deutsche Sprache. Aufgabe des BDM war es daher, ihnen »deutsche Kultur« zu vermitteln, die Sprache beizubringen und praktische Hilfe vor Ort zu leisten. Für diese umfangreiche Aufgabe verfügte der BDM allerdings über viel zu wenige Kräfte, sodass die Arbeit nie über ihre Anfänge hinauskam.
»Hilf mit!«, Juli/August 1942
Seite aus dem »Osteinsatz«-Album von Helga Jungk © NS-DOK, Köln
Am 15. Februar 1943 rückten die ersten Luftwaffenhelfer ein. Schon zwei Wochen später wurde erlaubt, selbst 14-Jährige »nach Einzelprüfung« zu berücksichtigen. Angesichts des gerade ausgerufenen »Totalen Krieges« hieß es, es gehe schließlich »um Sein oder Nichtsein unserer Nation«.
Den meisten Eltern war klar, dass es sich um eine »getarnte Einziehung zum Wehrdienst« handelte. Obwohl sie Angst um ihre Söhne hatten, gab es praktisch keine Gegenwehr. »Aber sagen darf man ja heute nichts, so bleibt’s beim Denken«, schrieb ein empörter Vater in einem Feldpostbrief – und schwieg.
Die über Jahre indoktrinierten Jungen zeigten sich für die neuen Aufgaben empfänglich. Sie glaubten mehrheitlich noch fest an den »Endsieg« und waren stolz darauf, nun endlich aktiv dazu beitragen zu dürfen. Ein Kölner Luftwaffenhelfer schrieb von »einem stolzen Gefühl, da ich weiß, dass auch ich jetzt teilnehmen kann am Schutze der Heimat. Wir sind alle mit Begeisterung dabei.«
Schulunterricht in der Flakstellung Mülheim-Speldorf, Sommer 1943 © Sammlung Norbert Krüger
Weihnachtsfeier in einer Essener Flakstellung mit Soldaten, Dezember 1943 © Sammlung Norbert Krüger
Es wurde alles getan, um die Eltern zu beruhigen. Die Propaganda behauptete, sowohl Drill als auch Überanstrengung würden vermieden. Außerdem seien mit 18 Wochenstunden die schulische Betreuung und eine gute Verpflegung gewährleistet. Die Unterkünfte seien wohnlich eingerichtet, Alkohol- und Tabakkonsum verboten.
Die Realität sah anders aus. Das Erziehungsministerium stellte Mitte Juni 1943 eine »Doppelbeanspruchung als Soldat und Schüler« fest. Viele Luftwaffenhelfer waren am Rand ihrer physischen und psychischen Leistungsfähigkeit. Die Unterbrechung der Nachtruhe und die »Anspannung bei Einsätzen« bedingten bei vielen eine »nervöse Erschöpfung«. An einen sinnvollen Schulunterricht war unter solchen Umständen nicht zu denken.
Die HJ-Fahne flattert über dem Sarg: Beisetzung eines Luftwaffenhelfers in Essen, 1944 © Sammlung Norbert Krüger
Drei Wochen nach der Einberufung ihrer Söhne bekamen vier Essener Familien nahezu gleichlautende Schreiben, in denen ihnen zum »Heldentod« der 16-jährigen Söhne ein »tiefempfundenes Beileid « ausgesprochen wurde.
Dabei hatten die Jungen ihren Einsatz zunächst als ein großes Abenteuer begriffen. Einer von ihnen schrieb an seine Eltern, der Dienst sei »ungefähr das Interessanteste«, was er bisher erlebt habe. Die Stimmung in der Einheit sei »rau, aber herzlich«, und man habe »eine tolle Jazzkapelle«. Einige Tage später war er tot. Beim Bombenangriff auf Essen in der Nacht zum 6. März 1943 war seine Flakstellung getroffen worden.
Genaue Angaben zu Toten und Verletzten unter den Luftwaffenhelfern existieren nicht. Allerdings lassen Berichte von zahlreichen Volltreffern in Flakstellungen hohe Opferzahlen vermuten.
Ende Juli 1943 wurde der Grundsatz, dass der Schulort auch Einsatzort sein musste, aufgehoben. Nun durften Schüler auch »überörtlich« eingesetzt werden. Mitte Januar 1944 stellten offizielle Beobachter fest, dass die immer jüngeren Luftwaffenhelfer bei der Verlegung von Flakbatterien wie Soldaten behandelt würden.
Ab Mai 1944 wurden Flakbatterien auch zur Verteidigung wichtiger Industrieanlagen und damit – ohne Ausbildung und ohne jede Chance – zum Bodenkampf herangezogen. Der 16-jährige Alfred Wingender schrieb Ende Januar 1945 an seine Eltern in Essen, seine Einheit solle »die Panzerdurchbrüche des Russen aufhalten«. Das, was den regulären Truppen nicht gelungen war, sollten nun Schüler leisten. Sie waren zu »Kanonenfutter« geworden.
Anfang September 1944 wurden im Zuge der »Notdienstverpflichtung « mit den Angehörigen der Geburtsjahrgänge 1929 und 1930 auch die Jüngsten noch für militärische Aufgaben herangezogen. Die meisten von ihnen sollten an »Westwall«, »Ostwall« oder »Westfalenwall « Schanzarbeiten ausführen.
Andere wurden im Zuge einer »Kriegsfreiwilligenaktion« im Alter von 15 Jahren gemustert und ohne Ausbildung und Ausrüstung als Wehrmachtsangehörige einem übermächtigen Feind entgegengeschickt.
Diese völlig sinnlosen Einsätze forderten unter den Jugendlichen noch zahlreiche Todesopfer. Viele andere wurden verwundet, ungezählte lebenslang traumatisiert.
Als Reichsjugendführer Axmann Anfang September 1944 den »totalen Kriegseinsatz der Hitlerjugend« befahl, wurde »Westwall« für die 14- und 15- Jährigen zum wohl meist gehörten neuen Schlagwort. Die Jungen der Jahrgänge 1929 und 1930 wurden nun als »Fronthelfer der Hitler-Jugend « zum »Baueinsatz Westwall« befohlen. Im Osten gab es entsprechend einen »Ostwall« und im Emsland seit dem 25. September 1944 schließlich noch einen »Westfalenwall«. Hier sollten die Jungen in sinn losen Schanzeinsätzen die deutsche Grenze sichern.
Selbst Mädchen gingen zur »Betreuung« mit und befanden sich damit in unmittelbarer Frontnähe. Sie sollten gemäß der üblichen Rollenverteilung Küchendienste versehen und die Versorgung der Jungen gewährleisten.
Am 7. September 1944 auf den Straßen von Gummersbach: Menschenmassen säumten den von einer Musikkappelle begleiteten Weg uniformierter Mädchen und Jungen zum Bahnhof. © Privat
Die Jugendlichen wurden als letzte »Einsatzreserve« vielfach mit großem Pomp auf den Weg zur Front geschickt. Obwohl Eltern und auch einige der Jugendlichen selbst dem Einsatz besorgt und angsterfüllt entgegensahen, bereitete man ihnen einen musikalisch untermalten und blumengeschmückten Abschied, der eher an den Beginn einer Ferienreise als an einen bevorstehenden, vielleicht todbringenden Fronteinsatz erinnerte.
Der Chronist einer Kölner Schule notierte: »In mit frischem Grün geschmückten und lustig beschriebenem Eisenbahnwagen wurden 14, 15 und 16jährige Jungen zum Schanzen in den Westen befördert, damit der herannahende Feind aufgehalten werden soll.«
Die verschiedenen Schanzeinsätze wurden von den NSMedien als organisatorisches Meisterstück und Beleg für die Schlagkraft und Effizienz der NSDAP und ihrer Gliederungen gefeiert.
Die Realität war eine andere. In oft völlig planlosen Märschen wurden die Jugendlichen von einer Einsatzstelle zur nächsten beordert. Dort fanden sie oft weder Unterkunft noch Arbeitsgerät vor. In vielen Fällen war nicht einmal klar, was sie überhaupt tun sollten. Das gesamte Unternehmen war, so der SS-Sicherheitsdienst, vorwiegend durch Improvisation gekennzeichnet.
Zugleich befanden sich die Eingezogenen in Frontnähe und sahen sich ständig Angriffen durch Tiefflieger ausgesetzt. Daher kam es zu einer massenhaften Fluchtbewegung. Die unerlaubte Rückkehr barg jedoch Gefahren. In Köln etwa nahmen HJ-Streifen immer häufiger Jugendliche fest, die vom Westwall »laufen gegangen« waren.
Dem 15-jährigen Friedhelm Fuchs wurden am Westwall sowohl das »Schutzwall-Ehrenzeichen« als auch das »Kriegsverdienst-Kreuz II. Klasse« verliehen. Das alles für – wie er in der Rückschau selbst sagt – »völlig sinnlose« Arbeiten. Bei einem Angriff kamen zehn der »Fronthelfer« ums Leben, und am 16. November 1944 wurde Friedhelm Fuchs Augenzeuge der Zerstörung von Düren. © NS-DOK, Köln
Propagandaminister Goebbels begrüßt in Lauban den mit dem EK II ausgezeichneten 16-jährigen Willi Hübner, der im März 1945 aktiv an der Verteidigung der Stadt beteiligt war. © Bundesarchiv, Bild 183-J313005
1944 rief die Reichsjugendführung selbst 15-jährige Hitlerjungen auf, sich freiwillig zu melden. Dazu veröffentlichte der HJ-Gebietsführer KölnAachen am 1. Juli 1944 einen Aufruf zur »Kriegsfreiwilligenaktion der HJ«: »Jeder wirkliche Kerl ein Kriegsfreiwilliger!« Sämtlichen HJ-Führern wurde aufgetragen, »dass alle ihnen unterstellten und in Frage kommenden Jugendlichen Kriegsfreiwillige werden«.
Wer sich nicht meldete wurde kurzerhand zur Musterung bestellt. Das galt auch für viele 1929 Geborene, die zuvor bereits am Westwall eingesetzt waren. Sie wurden noch im April 1945 zu Wehrmachtssoldaten und im umkämpften »Ruhrkessel« eingesetzt wo viele ums Leben kamen.