Es handelt sich diesem Projekt um ein interaktives Angebot des NS-Dokumentationszentrums. Ob es angenommen wird und welche Ergebnisse es hervorruft, hängt naturgemäß von jenen ab, die sich angesprochen fühlen, sich mit dem hier präsentierten Text auseinanderzusetzen. Zur Teilnahme ist jede Interessierte und jeder Interessierte aufgerufen – von der Schülerin (vielleicht als Beitrag zum Schüler- und Jugendgedenktag!?) bis zum Zeitzeugen.
1970 erschien in Israel der Gedichtband Gilgul („Metamorphose“) des Dichters Dan Pagis, die erste Veröffentlichung, in der er seine Erfahrungen mit der Shoah thematisierte. Eines der Gedichte dieses Bandes heißt: „Mit Bleistift geschrieben im verplombten Waggon“. Es ist in seiner Form offen und scheinbar „unvollendet“ und fordert geradezu dazu auf, es zu Ende zu schreiben.
Lassen Sie sich anregen. Ob als Gedicht oder in Prosa, oder auch als Foto, Collage oder Gemälde – Senden Sie Gedanken, Assoziationen, die durch den Text hervorgerufen werden, an nsdok@stadt-koeln.de oder per Post an das NS-Dokumentationszentrum, Appellhofplatz 23-25 in 50667 Köln.
Wir werden an dieser Stelle Raum zur Verfügung stellen, die die Ergebnisse Ihrer Auseinandersetzung zu veröffentlichen. Darüber hinaus besteht auch im Rahmen des Jugend- und Schülerdenktages die Möglichkeit, Ergebnisse zu präsentieren (vgl. hierzu die Informationen zum Jugend- und Schülergedenktag).
„Mit Bleistift geschrieben im verplombten Waggon“
von Dan Pagis
hier in diesem Transport
bin ich Eva
mit Abel meinem Sohn
wenn ihr meinen großen Sohn seht
Kain Adams Sohn
sagt ihm daβ ich
(Zitiert nach: Dan Pagis: An beiden Ufern der Zeit. Ausgew. Gedichte und Prosa. Aus d. Hebr. von Anne Birkenhauer. Straelen 2003)
Dan Pagis wurde 1930 in Radautz, einem zunächst österreichischen, dann rumänischen Ort in der Bukowina, geboren. Als Kind und Jugendlicher war er während des Zweiten Weltkriegs in mehreren Konzentrationslagern interniert, bis ihm 1944 die Flucht gelang. Pagis überlebte und wanderte 1946 nach Palästina aus, wo er zunächst in einem Kibbuz lebte und dann als Lehrer arbeitete. Später wurde er als Professor für mittelalterliche hebräische Literatur in Jerusalem, wo er 1986 starb.
Die Geschichte von Kain und Abel/Qabil und Habil – ein Thema im Judentum, im Christentum und im Islam.
Das Gedicht von Dan Pagis beschreibt eine konkrete Situation. Es werden vier Personen namentlich erwähnt: Adam und Eva, Kain und Abel. Diese Namen beziehen sich auf eine alte Überlieferung, denn die Erzählung findet sich in der Genesis, im 1. Buch Mose.
Die Juden nennen das erste Buch Mose nach seinem ersten Wort: „Bereschith“ („Im Anfang“); die griechischen Übersetzer des Alten Testaments nannten es „Genesis“ („Ursprung/Entstehung“). Der Text lautet:
Und Adam erkannte seine Frau Eva; und sie wurde schwanger und gebar den Kain. Und sie sprach: Ich habe einen Mann erworben mit der Hilfe des Herrn. Und weiter gebar sie seinen Bruder Abel. Und Abel wurde ein Schafhirte, Kain aber ein Ackerbauer. Und es geschah nach geraumer Zeit, dass Kain dem Herrn ein Opfer darbrachte von den Früchten des Erdbodens. Und auch Abel brachte [ein Opfer] dar von den Erstlingen seiner Schafe und von ihrem Fett. Und der Herr sah Abel und sein Opfer an; aber Kain und sein Opfer sah er nicht an. Da wurde Kain sehr wütend, und sein Angesicht senkte sich. Und der Herr sprach zu Kain: Warum bist du so wütend, und warum senkt sich dein Angesicht? Ist es nicht so: Wenn du Gutes tust, so darfst du dein Haupt erheben? Wenn du aber nicht Gutes tust, so lauert die Sünde vor der Tür, und ihr Verlangen ist auf dich gerichtet; du aber sollst über sie herrschen! Und Kain redete mit seinem Bruder Abel; und es geschah, als sie auf dem Feld waren, da erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.
Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er antwortete: Ich weiß es nicht! Soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach: Was hast du getan? Horch! Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von dem Erdboden! Und nun sollst du verflucht sein von dem Erdboden hinweg, der seinen Mund aufgetan hat, um das Blut deines Bruders von deiner Hand zu empfangen! Wenn du den Erdboden bebaust, soll er dir künftig seinen Ertrag nicht mehr geben; ruhelos und flüchtig sollst du sein auf der Erde! Und Kain sprach zum Herrn: Meine Strafe ist zu groß, als dass ich sie tragen könnte! Siehe, du vertreibst mich heute vom Erdboden, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und ruhelos und flüchtig sein auf der Erde. Und es wird geschehen, dass mich totschlägt, wer mich findet! Da sprach der Herr zu ihm: Fürwahr, wer Kain totschlägt, der zieht sich siebenfache Rache zu! Und der Herr gab dem Kain ein Zeichen, damit ihn niemand erschlage, wenn er ihn fände.
Und Kain ging hinweg von dem Angesicht des Herrn und wohnte im Land Nod.
Auch der Islam kennt die Geschichte der beiden Brüder, denn im Koran finden sich viele Erzählungen, die aus der Zeit vor dem Propheten Mohammed stammen und sich auf dieselben Quellen beziehen wie auch die jüdische und christliche Überlieferung. Der Prophet Mohammed selbst setzte in den Auslegungen des Korans die Kenntnis dieser Traditionen voraus; die Texte im Koran sind eigentlich nur Zitate, die als Beispiel für deren Interpretation, der eigentlichen Botschaft, dienen. Dabei beschränken sich diese Beispiele nicht auf die Traditionen der von den Juden und Christen anerkannten Schriften, sondern schließen zahlreiche andere Erzählungen ein, die wir heute nur noch aus dem Koran kennen. Zur Zeit des Propheten waren diese Geschichten aber vermutlich den meisten Menschen vertraut.
Auf die Geschichte von den zwei Brüdern verweist die 5. Sure des Koran, allerdings ohne Namen zu nennen:
„(O Mohammed,) und verlies ihnen (den Juden) in Wahrheit die Geschichte von den zwei Söhnen Adams (Kain und Abel), als sie beide ein Opfer darbrachten, und es von dem einen angenommen und von dem anderen nicht angenommen wurde. Da sagte dieser: "Wahrhaftig, ich schlage dich tot.” (Koran 5:27)
„Jener erwiderte: "Gott nimmt nur von den Gottesfürchtigen (Opfer) an. Wenn du auch deine Hand nach mir ausstreckst, um mich zu erschlagen, so werde ich doch nicht meine Hand nach dir ausstrecken, um dich zu erschlagen. Ich fürchte Allah, den Herrn der Welten.’” (Koran 5:27-28)
„Doch er erlag dem Trieb, seinen Bruder zu töten; also erschlug er ihn und wurde einer von den Verlierern.” (Koran 5:30)
„Da sandte Gott einen Raben, der auf dem Boden scharrte, um ihm zu zeigen, wie er den Leichnam seines Bruders verbergen könnte. Er sagte: ‚Wehe mir!‘ ‚Bin ich nicht einmal imstande, wie dieser Rabe zu sein und den Leichnam meines Bruders zu verbergen?‘ Und da wurde er reumütig.” (Koran 5:30)
Im Hadith wird die Begebenheit ausführlicher behandelt. Der Begriff Hadith stammt aus dem Arabischen und bedeutet Erzählung. So bezeichnet man im Islam die Überlieferungen über die Aussprüche und Handlungen des Propheten Muhammad. Es enthält aber auch Berichte über die Handlungen Dritter, die der Prophet stillschweigend gebilligt habe. Auf einer dieser Erzählungen basiert der Text, wie er im Koran-Unterricht gelehrt wird:
Qabil und Habil
Adam und Hawwa wohnten auf der Erde und lebten von dem, was sie von ihren Feldern ernteten oder in der Wildnis sammelten. Sie hatten zahlreiche Söhne und Töchter. Ihnen erzählten sie von Allah, der die Welt erschaffen hat, und von dem schönen Garten, in dem sie einst gewohnt hatten. Adam überbrachte seiner Familie Allahs Offenbarung. Er lehrte sie zu beten und von ihrer Habe Opfer zu bringen. Er warnte sie auch vor dem Teufel, der ihr ständiger Feind war. So wuchsen die Kinder auf und hatten selbst Kinder, und sie wurden ein großes Volk.
Unter Adams Söhnen gab es einen, der hieß Qabil, und einen, der hieß Habil. Sie bestellten den Acker und hielten Schafe. Jahr für Jahr zur Erntezeit brachten sie Allah ein Opfer. Allmählich aber sah Qabil die Arbeit als eine Art Wettstreit an und schaute mit neidischen Augen auf die Erfolge seines Bruders. Neid und Eifersucht aber sind Gedanken, die vom Teufel kommen. Sie verfinstern das Herz und vergiften die Seele, und ehe man sich’s versieht, bringen sie böse Taten mit sich.
Einst war es wieder Erntezeit, und die Brüder opferten einige Tiere und Früchte von ihren Feldern. Allah nahm Habils Opfer an, weil dieser ein reines Herz hatte. Aber Qabils Opfer nahm Er nicht an. Da verwandelte sich Qabils Neid in überschäumenden Hass, und er schrie seinen Bruder an: „Umbringen werde ich dich!” Sie waren weit draußen auf dem Feld, wo kein Mensch sie hören konnte. Habil erwiderte: „Selbst wenn du mich hier tötest, werde ich mich doch nicht wehren, damit ich nicht aus Versehen dich töte, denn ich fürchte Allah. Wenn du mich tötest, lädst du meine Fehler auf dich.” Aber nicht einmal diese Worte konnten Qabil zu Verstand bringen, und er erschlug seinen eigenen Bruder.
Da lag Habil tot auf der Erde, und Qabil stand wie betäubt daneben und begriff langsam, was geschehen war: dass sein Bruder da lag und nie wieder aufstehen und sein Gefährte bei der Arbeit sein würde, dass er selbst ihn getötet hatte. Er wusste nicht, was er tun sollte, ja nicht einmal, wie er den Leichnam seines Bruders vor den Geiern und Hyänen verstecken konnte. Da kam auch schon ein Rabe angeflogen . Doch der Rabe fing nicht etwa an, von dem Leichnam zu fressen, Wie es Raben manchmal tun, sondern scharrte mit seinen Krallen ein Loch in die Erde, wobei er immer wieder zu Qabil hinüberschaute.
Endlich verstand dieser. Der Rabe war gekommen, um ihm zu zeigen, wie man ein Grab für den Toten gräbt. Qabil schämte sich sehr und rief aus: „Wie elend bin ich, dass ich dies von einem Raben lernen muss!”
Qabil begrub Habil, dann ging er fort. Die Menschen hatten Angst vor ihm und gingen ihm aus dem Weg. Er selbst aber bereute seine Tat und wünschte, er hätte niemals die neidischen und eifersüchtigen Gedanken in seiner Seele wachsen lassen. Einen unschuldigen Menschen zu töten ist ein schweres Verbrechen. Wer einen Menschen tötet, ist wie einer, der die ganze Menschheit getötet hat. Wer aber einem Menschen das Leben rettet, ist wie einer, der der ganzen Menschheit das Leben gerettet hat.